Einkaufswagenkunst
Eine Bildumkreisung
In Städten findet man öfters mal Einkaufswagen an Orten, an denen man sie nicht vermutet. So erging es mir, als ich durch Limburg schlenderte. Am 29. Mai 2022 machte ich obige Aufnahme. Ich habe sie nicht beschnitten, es ist das Vollformat zu sehen. Und es ist eine Einzelaufnahme. An den Ort der Aufnahme geriet ich, da ich eine Tour aus dem Buch Limburg zu Fuß ablief. Der Ort befindet sich unweit der Shoppingmall Werkstadt Limburg. Ein Ort, an dem es für Einkaufswagen ausgewiesene Abstellmöglichkeiten gibt. Ich war an einem bedeckten Tag am Vormittag unterwegs.
Neben dem mittigen Bildzentrum nach rechts versetzt sind zwei ineinander geschobene Einkaufswagen zu sehen. Sie stehen am Rand einer gepflasterten Fläche. Vermutlich eines Parkplatzes. Darauf könnte die Bodenmarkierung hinweisen, die den Betrachter zu den Einkaufswagen leitet. Die Einkaufswagen werden von einem Maschendrahtzaun begrenzt, der zugleich die Begrenzung der Parkraumfläche darstellt. Hinter dem Maschendrahtzaun ist ein dunkler Verschlag zu sehen, der sich vom rechten Bildrand mittig bis in die linke Bildhälfte zieht. Dahinter sind zweistöckige Wohnhäuser zu sehen.
Am linken Bildrand verläuft eine Grundstücksbegrenzung, an deren oberen Ende Stacheldraht gespannt ist. Von den drei Drähten führen die unteren zwei zu dem Beet, das die Parkraumfläche zur linken begrenzt. Die Linke Bildhälfte wir flächig von einer Hauswand dominiert, an der im Erdgeschossbereich der Putz bröckelt. Auf die Wohnqualität des Hauses lässt sich daraus nicht schließen. Zwar macht das Pflanzenbeet in der linken unteren Bildhälfte keinen sonderlich gepflegten Eindruck. Dass jedoch ist häufig bei Mietshäusern anzutreffen.
Die abgebildete Bausubstanz wirkt im ganzen wohnlich. Der Rückschluss auf die Kaufkraft der Bewohner oder deren Schichten- bzw. Klassenzugehörigkeit lässt sich nicht ableiten. Lediglich die deplatzierten Einkaufswagen erlauben den Rückschluss auf die mögliche Bewohnerschaft.
Da ich die Aufnahme im Vorbeigehen geschossen habe, lässt sich nur spekulieren, wer die Bewohner sind. Die Fotografie lädt dazu ein, seinen inneren Bildern und Vor-Urteilen freien Raum zu lassen.
Einkaufswagenkunst
Auf Twitter folge ich schon seit vielen Jahren dem Account Einkaufswagenkunst. Der Account reiht Aufnahme um Aufnahme von Einkaufswagen an ungewöhnlichen Orten. Manchmal sind der Aufnahme Ort und Zeit mitgegeben. Oft jedoch nicht. Der Account wurde 2014 angelegt. Die Person, die den Account angelegt hat bzw. ihn betreut, gibt die Stadt Wien als Ort und als Accountkategorie Kunstgalerie an. 14.772 Follower vermerkt Twitter.
Auf Instagram findet sich kein gleichnamiger Account. Dafür spuckt die Suche zum Suchbegriff #einkaufswagenkunst 697 Beiträge aus.
In den sozialen Medien findet diese Kunst statt, wen auch für eine kleine Szene von Interessenten.
In Bremen wurde 2020 eine Gúerilla-Bronze-Skulptur errichtet. Das RBNSHT Online Magazin berichtet dazu: https://urbanshit.de/guerilla-bronze-statue-in-bremen-ueber-nacht-aufgestellt/
Sozialreportage
Die Aufgabenstellung der Sozialreportage ist die funktionale Rekonstruktion sozialer Probleme. So kann ich es im Lehrbuch Sozialreportage nachlesen.
Fragen
- Was ist auf dem Bild alles zu sehen, was nicht?
- Was ist der erste spontane Eindruck von dem Bild?
- Wie ist die Linienführung im Bild?
- Welche perspektivische Raumkonstruktion liegt vor?
- Welche Bildmittelpunkte gibt es und wo liegen sie?
- Welche Lichtverhältnisse liegen vor?
- Ergibt sich aus der perspektivischen Projektion eine soziale Besonderheit?
- Gibt es einen interaktiven sozialen Gehalt der szenischen Choreografie?
- Welches epochaltypische soziale Schlüsselproblem wird durch das Foto thematisiert?
- Werden in dem Foto systemische Desintegrationsprozesse erfasst?
- Mit welcher Art von fotografisch-ikonologischer Verallgemeinerung haben wir es zu tun?
- Mit welcher Technik wurde das Foto aufgenommen?
- Welchen Beitrag kann das Foto zur “Erweiterung” des vorhandenen ikonischen Wissens um soziale Problemlagen und -traditionen leisten?
- Wie ist die Auswahl des sozialen Realitätsausschnitt?
- Wie ist der lebensweltliche Zugang zur Fotografie?
- Wie sind die Einkaufswagen an den Ort gekommen?
- Wer hat sie dorthin geschoben?
- Wer hat die Wagen zusammengeschoben? Waren das ein und dieselbe Person?
- Wurden die Wagen zur gleichen Zeit dort abgestellt?
- Wie wirkt sich die Anwesenheit der Einkaufswagen auf die abwesenden Fahrzeuge aus?
- Wie verhalten sich die Bewohner der angrenzenden Häuser zu diesem Umstand?
- Von welchem Supermarkt stammen die Wagen?
- Wie weit ist der Supermarkt vom jetzigen Standort der Einkaufswagen entfernt?
Eine kurze Recherche ergibt, dass man es besser bleiben lassen soll, Einkaufswagen kurz auszuleihen. Mitunter kann das als Straftat ausgelegt werden.
Unbewusst bewusste Bilder / ikonisches Wissen
Ich sehe überschwängliche, ausgelassene Jugendliche Einkaufswagen durch die Gegend schieben. Zumeist sitzt ein Jugendlicher im Wagen, während der oder die Anderen den Wagen von hier nach dort schieben. Gerne auch mal eine steilere Auffahrt hinunter. Der Ausgelassenheit zuzuschreiben ist, dass die Jugendlichen die Einkaufswagen nicht weit vom Ursprungsort abstellen. Es geht um Spaß, nicht um Arbeit.
Dann sehe ich, genährt aus eigenständigen Eindrücken, aber auch aus Film und Reportage, Obdachlose, die ihr Hab und Gut in einem Einkaufswagen mit sich führen. Zuletzt sah ich in Hamburg, unweit des Heiligengeistfeld, einen Obdachlosen mit gut gefüllten Einkaufswagen. Dominiert wird dieses Bild durch die Schilderungen in Im Land der letzten Dinge von Paul Auster, in der die Protagonisten riesige Einkaufswagen mit sich führen. Einkaufswagen und Dystopie.
Und ich sehe ärmlich gekleidete Mitbürger, die ihre Einkäufe in Einkaufswagen zu ihren erbärmlichen Behausungen schieben.
Diskrepanz und Freilegung
Das ungewöhnliche am obigen Bild ist, dass die Einkaufswagen so akkurat ineinander geschoben am Rande der Parkraumfläche stehen. Sie sind nicht umgekippt. Sie sind nicht demoliert. Sie liegen nicht mittig auf der Fläche. Parkplatz und umgebende Gebäude scheinen aufgeräumt, fast penibel sauber. Auf der gepflasterten Fläche liegen weder Abfall noch Papierfetzen. Im Vorgarten des Hauses findet sich ebenso keinerlei Abfall. Vergeblich sucht man im Bild nach Indizien, die auf eine ärmliche Bewohnerschaft hinweisen könnte. All dies korrespondiert nicht mit den unbewussten Bildern. Diese offensichtliche Diskrepanz ist im Nachgang nicht mehr aufzulösen. Und dennoch evoziert die Fotografie innere Bilder, die sich über die Fotografie legen werden. Einkaufswagen gehören nicht in den öffentlichen Raum. Und schon gar nicht in den halb-öffentlichen bzw. privaten Raum.
Welche ihrer inneren Bilder sich über das obige Bild gelegt haben, welche Vor-Urteile, dass wissen sie selbst. Ich habe ihnen eine Anleitung an die Hand gegeben, mit deren Hilfe sie das obige Bild von Ihren Überlagerungen freilegen können.
Der Text wurde erstmals am 17.10.2022 auf Dérive & Photography veröffentlicht
Weiterführende Lektüre
- Karl-Heinz Braun, Sozialreportage: Einführung in eine Handlungs- und Forschungsmethode der Sozialen Arbeit, ISBN: 978-3531163321
- Limburg zu Fuß, ISBN: 978-3-95542-418-3