Schnitt-Kontinuum

DAO, Repräsentation und Fotografie

Was wäre, wenn …

Was wäre, nur mal angenommen, wenn eine Fotografie nichts repräsentiert? Wenn wir die Fotografie aus dem Diktat der Repräsentation befreien und uns so die Möglichkeit eröffnen, sie mit völlig neuen Augen zu betrachten?

Stellen wir uns vor, Fotografie sei die Kunst, Bilder zu erschaffen, die ihre eigene Wirklichkeit sind. Das bedeutet, dass die oben gezeigte Fotografie zwar eine Entstehungsgeschichte hat, aus der sich jedoch nicht zwangsläufig eine Deutungsgeschichte ableitet. Diese Fotografie repräsentiert nichts. Sie zeigt auch kein „So ist es gewesen“.

DAO – Einschub

Wie müssen wir uns diesen Denkansatz vorstellen? Der Daoismus bietet uns eine Möglichkeit. Die alten Denker Chinas verstanden Kunst nicht als Auftrag, die Realität abzubilden, zu repräsentieren oder möglichst perfekt nachzuahmen. Vielmehr galt der Anspruch, dass ein Bild seine eigene Wirklichkeit ist. Eine Legende besagt, dass ein berühmter Maler ein so vortreffliches Bild einer Landschaft samt Eingang zu einer Höhle malte, dass er, nachdem das Bild feierlich enthüllt wurde, augenblicklich darin verschwand.

Bildfindung – Bildentstehung

Zuerst meditiere ich, um die Gesellschaft, die Realität um mich herum und mich selbst zu vergessen. Dann meditiere ich, um mit dem DAO des Fotografierens zu verschmelzen. Der Rest – die Fotografie – entsteht wie von selbst. Zwischen mir und dem Werk, der Fotografie, gibt es keinerlei Reibung oder Widerstand mehr.

Der Weg der Bildentstehung ist von Interesse. Wie wird eine solche Fotografie hervorgebracht? Darum dreht sich die Kunst der Fotografie.

Die Fotografie wird nicht als Abbild von etwas Anderem – einem Ding, einem Moment – gedacht.

Momentum und Tod

Im Gespräch mit Marcus Bohl (Taumelland) skizzierte ich auf die Frage, warum in der Fototheorie oft eine Verbindung zum Tod nahegelegt wird. Meines Erachtens ist diese Nähe der Fotografie zum Tod eine direkte Folge des Missverständnisses, dass Fotografie ein „So ist es gewesen“ beinhaltet. Betrachte ich eine Fotografie mit dieser Annahme, wird mir als Betrachter sehr schnell bewusst, dass das, was ich annehme und unterstelle (oder in die Fotografie hinein interpretiere), nie wieder sein wird. Der Moment ist in der Fotografie festgehalten. Er kommt nicht wieder. Das Foto wird zum Fetisch, zu einem Ritualgegenstand, um mit der Trauer über den Verlust (oder der Freude) umgehen zu können.

Das ist ein schöner Nutzen der Fotografie.

Schnitt-Kontinuum

Einen dem DAO verwandten Ansatz finden wir im Schnitt-Kontinuum (jap. Kire). Kire bezeichnet einen technisch-künstlerischen Eingriff in die Natur eines Dings, durch den dessen Natürlichkeit scheinbar „abgeschnitten“ wird. Diesen Denkansatz habe ich in „Schnitt-Kontinuum – 36 Kata von Ischgl“ fotografisch manifestiert.

Erst durch das Vergessen können wir uns vom bisherigen Diktat der Fotografie lösen und erkennen, dass es den Moment (Traum) gab, in dem ich fotografierte, und die Fotografie, die nichts von meinem Traum weiß.

Verbinden wir jedoch den Akt des Fotografierens (das sich an den Traum Erinnern) fest mit der Fotografie, die hervorgebracht wurde, so starten wir den endlosen Reigen unnützer Fotodiskurse darüber, was die Fotografie zeigt (und was nicht). Immer ausgehend von der Annahme, dass es einen Moment gab, den man nacherzählen kann. Das wirkmächtigste Motiv dieser Diskurse ist der Zweifel.

Nicht reden und auch nicht schweigen: Dies ist der Endpunkt aller Diskussion.

Der Text wurde erstmals am 25.6.2023 auf Dérive & Photgraphy veröffentlicht

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