Suchbewegung
Atlas der Gesten
Wer fotografiert, sucht. Die Kamera vors Auge zu halten, um ein Motiv zu finden, ist im Kern eine Suchbewegung. Diese Geste umfasst Bewegungen der Hände, Arme, Schultern, Finger, des Kopfes, Gesichts und Oberkörpers. Sie dient der Kommunikation und kann einzeln wie eine Interjektion oder in einer Reihe wie ein Satz wirken. Die Geste braucht kein Gegenüber, um verstanden zu werden. Sie richtet sich nicht zwingend auf etwas und adressiert niemanden. Der Fotograf ist ein Suchender.
Im Zustand des Dérive (eines Sich-Treiben-Lassens), lässt man die gängigen Motive für Bewegung und Aktion hinter sich und lässt sich von der Anziehungskraft der Umgebung – für gewöhnlich urban – leiten, und von den Begegnungen, die sich dort ergeben.
Guy Debord, 1956
Immer wieder suche ich nach dem Sinn in meinem Leben. Manchmal tue ich das intensiv und bewusst, manchmal weniger. Manchmal bemerke ich die Suche nicht. Ich handle einfach. Ich gehe. Ich bewege mich. Ich wandere. Ich flaniere. Ich schweife umher. Ich folge Wegen. Ich gehe meinen Weg. Ich setze einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt formt den Weg. Manchmal ist der Weg vorgegeben. Dann erwandere ich ihn. Ich wandere auf Wegen, die andere für mich angelegt haben.
In der Stadt fällt es schwer, die vorgegebenen Wege, Straßen und Gehsteige zu verlassen. Manchmal bieten sich Lücken zwischen Häusern an, die eine Abkürzung ermöglichen. Dann nehme ich einen Weg ins Ungewisse. Manchmal gehe ich auf der Straße statt auf dem Bürgersteig. Immer mit dem Blick nach vorn, dorthin, wo der Tod lauert. Dem Tod entgegen. Immer dem Tod entgegen!
Anpassung
Und gehen wir schon zu den Zwergen,
folgt uns die Stiefmutter doch.Elke Erb, 1967
Früher sagte ich, ich suche. Doch irgendwann galt das als verpönt. Wer sucht, der findet, heißt es. Finden wurde zum neuen Suchen. Im Kapitalismus zählen nur Ergebnisse. Auch wenn es Suchmaschine heißt, in den Intranets der Unternehmen wurde der Such-Button zum Finden-Button. Wer sucht, weiß nicht, was er will. So scheint es mir.
1986 begab ich mich mit einem Freund auf eine Reise. Sie dauerte so lange, bis unser Geld zur Neige ging. Die Reise wurde zu einer achtwöchigen Suchbewegung, wobei ich heute nicht mehr so genau weiß, was ich damals suchte. Dennoch ist diese Reise ein wichtiger Bestandteil meiner Suche.
Ich lese gern. Und viel. Lesen lässt mich träumen. Meine Gedanken schweifen oft umher. Erst nach etlichen Seiten merke ich, dass ich längst woanders bin – in meinen Träumen, gedankenverloren. Schnell mache ich mir dann Notizen. Manchmal lese ich diese Notizen. Ich gehe sie durch, studiere sie eingehend, seziere sie, schreibe sie um, formuliere sie neu. Es ist, als ob ich den Ausgangspunkt meiner Gedanken suche, als ob ich ihn verschieben oder verändern könnte. Manchmal ringe ich auch nur um die richtigen Worte, ohne manieriert zu wirken oder so, als ob ich ein richtiger Schriftsteller sei.
Ich stelle mir dann vor, ich sei Peter Handke, Peter Weiss, Paul Auster oder Rainald Goetz. Ich imitiere ihre Schreibstile oder versetze mich in ihre Haltung des Schreibens. Ich stelle mir vor, wie sie vor ihren Schreibgeräten sitzen und um die richtigen Worte ringen. Ich sehe mich vor meinem kleinen Haus in den Bergen sitzen, an einem kleinen Tisch. Im Winter säße ich drinnen, in der gemütlichen, warmen Stube. Ein Feuer würde im Ofen knistern, Eisblumen trüben die Sicht nach draußen. Oder es wäre Frühling, und der Apfelbaum vorm Haus stünde in voller Blüte. Natürlich würde eine Katze umherstreifen, und in der Ferne würde eine Kirchturmuhr zur vollen Stunde schlagen.
Wenn ich lese, entfliehe ich oft meinem Alltag. Lesen bietet mir einen flüchtigen Moment der Freiheit. So wie ich es praktiziere, kommt es der Freiheit des Bleibens sehr nahe. Ich lasse mich von den Gedanken anderer einladen, Gast zu sein und zu verweilen. Zu bleiben. Die Autoren erlauben mir, in ihren Gedanken und Welten umherzuschweifen, solange ich möchte. Lesen ist für mich ein Ausdruck von Zärtlichkeit. Deshalb fällt es mir schwer, von Hass und Leid zu lesen. Das zerreißt mir das Herz. Ich leide und fühle dann mit. Worte, die ich lese, kann ich nicht von mir fernhalten. Filme und Filmhandlungen hingegen schon. Aber nicht die Literatur. Ich kann einem hilflosen oder verletzten Menschen oder Tier jederzeit helfen. Doch die Erzählung über einen leidenden Menschen geht mir an die Nieren.
Tierchen nennen die Menschen Euch,
Und es schwingt ein Überhebliches in ihrer Stimme, wenn sie
Tierchen sagen.
O über ihre Torheit!
Ich habe gelernt andächtig zu werden vor Eurem
unnennbaren Tiersein.Ernst Toller, Das Schwalbenbuch
Vor vielen Jahren, während eines Wochenendes der Stille, entdeckte ich die Poesie für mich. Ich musste lange durchs Leben streifen, bevor ich die Zärtlichkeit und Magie der Poesie erkannte. Ideologie und pubertäre, toxische Männlichkeit hielten mich von Gedichten fern. Gedichte galten als etwas für Sonderlinge, für Weicheier, die sich dem Kampf, besonders dem revolutionären Kampf, nicht stellen wollten. Wer Gedichte las, musste ein Friedensheini sein, einer, der auf Ostermärsche ging. So einer, der sich uns, die wir in Wackersdorf in der Pfingstschlacht die Entscheidung suchten, in den Weg stellen würde. Frieden würde er brüllen, keine Gewalt. Ich gab meine Kamera B., damit ich die Hände frei hatte, um zu handeln.
Damals dachte ich, ich sei angekommen. Ich suchte nicht, ich stürmte voran. Ich lebte den Sommer der Anarchie, eines der Bücher, die ich auf meiner Reise durch Spanien las. Während ich durchs Mittelmeer Inselhopping machte, von einer Kykladeninsel zur nächsten, las ich Homer. Am Strand des Atlantiks, gegenüber von England, las ich Ulysses. Auf einem Flug nach San Francisco las ich Die Entdeckung der Langsamkeit. Vor, während und nach den Reisen verschlang ich Unmengen an Sachbüchern. Überwachen und Strafen war eines davon. Ein wichtiges Buch. Es sensibilisierte mich im Umgang mit Macht, besonders mit meiner eigenen. Es zeigte mir, dass ich nicht einfach nur den Anderen, den Staat oder den tiefen Staat für alles Übel in der Welt verantwortlich machen konnte. Natürlich blieb ich davon überzeugt, dass politische Macht aus den Gewehrläufen kommt. Seit der Lektüre der roten, kleinen Bibel habe ich in den Medien nichts anderes entdecken können. Kein Argument, dass bestehen konnte. Mit Argwohn betrachte ich Berichte, die anderen Mitteln, wie den zum Beispiel den sozialen Medien, eine ähnliche Macht zuschreiben. Der arabische Frühling war keine Facebook-Revolution.
The Revolution will not be televised.
Fotografieren ist im besten Sinne eine vollkommene Suchbewegung. Diese beginnt mit der ersten Idee: die Schuhe zu schnüren, die Kameratasche zu schultern und das Haus zu verlassen. Vielleicht beginnt sie viel früher, beim Lesen eines Gedichts oder beim Betrachten alter Fotografien. Vielleicht beginnt diese Bewegung noch früher, bei einer Meditation oder im nächtlichen Traum.
Fotografieren scheitert, wenn man nicht sucht, sondern nur findet. Wenn man einem Trugbild nachjagt, einer inneren Vorstellung von etwas. Schlechte Fotografen suchen nicht. Sie finden. Sie verhalten sich wie Kolonialisten. Sie kolonialisieren die Welt. Sie bestimmen, wie die Welt zu sein hat. Sie suchen nicht. Sie nehmen nichts wahr. Sie nutzen die Welt, um ihre Sicht auf die Dinge zu illustrieren. Sie haben eine Fotostrecke vor dem inneren Auge. Sie wissen, wie sie den Spannungsbogen halten können. Sie wissen, wo der Redakteur den Text in ihr Bild setzen wird. Sie sind eins mit der Medienmaschine.
Ich suche nicht, um etwas bestimmtes zu finden. Im Grunde weiß ich erst aus der Rückschau, dass ich stets auf der Suche bin. Mein Leben, so wie es sich mir darstellt, ist eine Suchbewegung.
Mir ist der Blick durch den Sucher sehr wichtig. Ich nutze nur Kameras mit Sucher. Der Blick durch den Sucher bedeutet anpeilen, abschätzen, einschätzen, bewerten, sortieren und einsortieren. Das Auge tastet durch den Sucher die Umgebung und die Welt ab. Es ist ein fließender Scanprozess. Gleichzeitig prüfe ich die Ränder des Bildes im Sucher. In Windeseile entscheide ich, ob das Bild gut ist und ob ich den Auslöser drücke. Je mehr ich finden möchte, desto weniger gelingt mir der fotografische Prozess. Dann entstehen keine guten Fotografien. Nur wenn ich dem Wissen des Unbewussten vertraue, wenn ich suche und Fragen stelle, statt Antworten zu geben, habe ich eine Chance auf ein gelungenes Bild.
Fotografieren ist wie die Übung “Stehen wie ein Baum”. Von außen betrachtet wirken Tai Chi- und Qi Gong-Übende, als würden sie stur in einer unbequemen, Kräfte zehrenden Haltung verharren. Sie scheinen darauf bedacht, möglichst unbewegt, so unbewegt wie ein Baum, zu stehen. Wir glauben, Bäume bewegen sich nicht. Wir denken, der Wind und die Gezeiten bewegen den Baum. Der Baum, so meinen wir, trotzt den Unbilden der Zeit. Er altert, wird knorzig und bricht, wenn er zu alt, zu schwach oder zu müde ist. Wenn wir wie ein Baum stehen, dann wie ein kraftvoller, junger Baum. Wir trotzen den Unbilden der Zeit. Wer wackelt oder sich bewegt, steht nicht wie ein Baum. Das ist natürlich Unsinn. Ein Baum ist in ständiger Bewegung. Er läuft zwar nicht herum, deswegen erscheint er uns, die wir die minimalen Bewegungen nicht wahrnehmen, als reglos. Wir übersehen, dass der Baum ein Lebewesen ist. In seinem Inneren fließen Säfte. Botenstoffe sausen von den Ästen zu den Wurzeln und zurück. Ein Baum ist ein so komplexes Wesen wie wir Menschen. Wenn wir also wie ein Baum stehen, dann hören wir auf die Energie in uns. Wir spüren die Säfte, das Blut, das Wasser, die Essenz. Wir erkennen Blockaden und tasten uns an sie heran. Wir konzentrieren uns, lösen, strahlen Wärme aus, kühlen und gleichen aus. Stehen wie ein Baum ist eine erschöpfende Bewegung. Der ganze Körper und der ganze Geist sind vollkommen ausgelastet. Gleichzeitig sind wir leer. Wir sehen nicht, wir schauen. Wir riechen nicht, wir schnuppern. Wir tasten nicht, wir fühlen.
Die Übung “Stehen wie ein Baum” lädt ein. Sie ist eine Suche, die Geist, Körper und Welt einbezieht. Sie fordert mich auf, zu lauschen und zu spüren. Ich folge den Bewegungen und Energieströmen. Ich halte nichts fest, blockiere nichts und fixiere nichts. Ich lasse alles fließen. Stehen wie ein Baum ist eine endlose Bewegung. Suchbewegungen haben weder Anfang noch Ende; sie sind fortlaufend. Ich kann in den Strom der Suchbewegung eintauchen und mich mitreißen lassen, so lange ich es ertrage. Manche Menschen tun dies stundenlang. Dann wird es zu einem Wettbewerb, und die Suchbewegung verkommt zur Farce.
Jede Art Lebewesen, das ausstirbt, verdünnt das Weltvokabular, bringt uns weiter zurück von der Wahrheit, die aus dem Zusammenklang aller Wesen sich heraufarbeitet.
Wilhelm Lehmann, Bukolisches Tagebuch
Fotografieren ist ein fortlaufender Prozess. Ohne Anfang. Ohne Ende. Sobald ich den induzierten Bildern folge, verlasse ich diesen Prozess. Dann werde ich Teil des Universums der technischen Bilder. Ich produziere technische Bilder. Ich bin ein Prosumer. Ich bin dann Teil der Maschine.
Fotografieren bedeutet, Fragen zu stellen. Ständig befrage ich die Welt. Ich trete in Resonanz mit ihr und stelle Fragen. Höflich richte ich meine Fragen an Menschen, Bäume, Landschaften und Tiere. Ich stelle offene Fragen, so wie ich es als Coach gelernt habe. Mit meinen Fragen lade ich dazu ein, Geschichten zu erzählen. Menschen, Bäume, Landschaften und Tiere erzählen diese Geschichten. Ich lausche. Hin und wieder drücke ich den Auslöser und fange Momente aus den Geschichten ein. Diese Momente können uns später helfen, weitere Fragen zu stellen oder dieselben Fragen erneut zu stellen, um den Geschichten wieder zu lauschen.
Heute sehen viele Fotografien als Antworten. Sie dienen dazu, Geschichten zu fragmentieren, zu zerstückeln und Erfahrungen auf Ereignisse zu reduzieren. Man entreißt uns die Bilder, um die Welt im Sinne des Universums der technischen Bilder zu kolonisieren. Dieses Universum ist kein abstraktes Gebilde. Es hat, wie die Künstliche Intelligenz, sein Zuhause in den Rechenzentren dieser Welt. Es ist, wie die KI, ein politisches Projekt, um die Welt zu gestalten und Realitäten zu bestimmen.
Fragen verflüssigen. Richtig gestellt, eröffnen sie einen Dialog. Fragen sind der Einstieg zum “Wir”. In der Schule, im Elternhaus, schon im Kindergarten, trimmt man uns darauf, Antworten zu geben. Antworten jedoch besitzen keine Energie. Sie sind stumpf. Antworten erzählen nichts. Sie ziehen nur weitere Fragen nach sich. Fragen hingegen laden zum Reflektieren ein. Sie ermutigen uns, gemeinsam zu überlegen und zu phantasieren. Sie verwandeln Ereignisse in Erfahrungen.
Technik basiert auf Antworten. Auf eindeutige Antworten. Null oder Eins, ja oder nein. Technik ist das Ende des Dialogs. Des Miteinanders. Technik, so wie heute die „KI“, ist nicht einfach nur ein Apparat. Eine Leica. Technik, wie KI, ist „ein Faktor bei der Ausgestaltung von Wissen, Kommunikation und Macht“, so Kate Crawford. Und weiter, Technik, wie KI, ist „also eine Idee, eine Infrastruktur, eine Industrie, eine Form der Machtausübung und eine Art zu sehen.“ Das Universum der technischen Bilder, schickt sich nicht an, ebenso wie die KI, „einen Atlas der Welt zu kreieren, sondern selbst der Atlas zu sein – die vorherrschende Art, zu sehen.
Es ist ungemein anstrengend, sich aus dieser tödlichen Umarmung zu befreien und dorthin zurückzukehren, wo die Fragen beginnen. Manche, wie mein guter Freund C., reisen nach Indien. Andere werden Buddhisten oder Zen-Mönche. Sie sitzen und hoffen auf Erleuchtung. Sie wollen Eins werden mit der Welt. Sie stehen täglich lange Stunden wie ein Baum. Sie wollen leer werden, um zu erleuchten. Um Erleuchtung zu erlangen. Vielleicht streben sie nach Meisterschaft. Viele scheitern, weil man Erleuchtung nicht erzwingen kann. Erleuchtung, oder auch Einsicht, ist kein Zustand. Kein Endgegner. Kein Spiel, das man gewinnen kann. Es gibt kein Zertifikat, das einen Erleuchtungsmoment verifiziert, was vielen schwerfällt zu akzeptieren. Man kann Erleuchtung und Einsicht nicht messen. Meditation, Achtsamkeit, Resilienz und Naturverbundenheit sind keine Techniken. Sie sind nicht Mittel zum Zweck. Hier liegt in der abendländischen Denktradition ein fundamentaler Irrtum. Sich zu befreien und sich auf den Weg, das DAO, zu machen, bedeutet, sich bewusst zu werden, dass das Leben eine Suchbewegung ist.
Jeden Morgen stehe ich auf, gehe in meinen Garten und laufe die Yang-Form. Anschließend stehe ich eine Weile wie ein Baum. Jeden Morgen ist diese Übung anders. Jeden Morgen stelle ich andere Fragen, erörtere andere Möglichkeiten, lausche mal hierhin, mal dorthin. Jeden Morgen ist die Energie im Garten, die Energie der Welt, wie auch meine Energie, eine andere. Eine der größten Hürden ist die Loslösung vom Zeitstrahl-Denken hin zum Gezeiten-Denken. Im Coaching ist es das Gleiche. Offene Fragen bringen den Dialog in Schwung. Dabei bin ich als Coach nicht durchgängig der Dialogpartner. Vielmehr lade ich meine Kunden ein, in den Dialog mit sich selbst einzutreten. Sich selbst offen zu begegnen. Dafür biete ich den geschützten Raum, den nötigen Halt, die Zeit.
Fotografieren beginnt mit einer offenen Frage. Alles Weitere geschieht im Dialog. Im Dialog mit der Mitwelt, den Dingen, den Menschen und den nicht-menschlichen Lebewesen. Bin ich bereit für diesen Dialog und offen genug, diesen Dialog in einem Bild weiterleben zu lassen? So dass das Bild wiederum keine Antworten, keine induzierten Bilder produziert, sondern die Betrachtenden zum Dialog einlädt. Auf dass sie ihre Geschichten erzählen.
Fotografieren bedeutet, umherzuschweifen. Alles beginnt mit einer Frage: nach einem Ort, einer Zeit, einem Gefühl, einer Begebenheit, einem Menschen oder einer Sehnsucht. Umherzuschweifen gelingt nur in einem Gefühl der Zärtlichkeit. Nur in radikaler Zärtlichkeit ist Dialog möglich. Nur im Dialog kann ich fotografieren. Umherzuschweifen heißt, in Resonanz zu treten. Etwas in mir schwingt, weil etwas außerhalb von mir schwingt. Ich muss die Sprache der Dinge und der nicht-menschlichen Lebewesen nicht verstehen, um ihre Fragen in meinen Fotografien weiterzugeben.
Umherzuschweifen braucht Zeit. In Resonanz treten braucht Zeit. Im Dialog sein braucht Zeit. Meditation braucht Zeit. Dabei spielt die Dauer der Meditation oder des Dialogs keine Rolle. Meditation und Umherzuschweifen sind kein Wettbewerb. Beim Umherschweifen bin ich offen für tiefe Einsicht. Thich Nhat Hanh nennt es „Tiefes Schauen im gegenwärtigen Moment“.
Manche Menschen, wie Herr Rossi, suchen das Glück. Diese Suche, ja sogar das Anrecht auf Glück, hat sich in manche Verfassungen eingeschrieben. Im Westen wird Glück zur Sucht – zur Sucht nach Glücklichsein. Ein mächtiger Zustand, den Konsum befriedigen soll. Drogen oder andere Mittel sollen uns zum Glück verhelfen. Etwas muss mir einen Kick geben. Sucht gleicht einem Glücksspiel. Glücksspiele wie Lotto, Einarmige Banditen, Wettrennen oder soziale Medien zielen darauf ab, süchtig zu machen. Ich muss nur lange genug durch meine Timeline scrollen, um den nächsten Glücksmoment zu erhaschen. Zwischendurch trinke ich einen Whisky oder esse Zuckergebäck. Es gibt vieles, das mir Glück verspricht. Die grundlegende Eigenschaft aller Menschen, sich auf die Suche zu begeben, wird auf Konsum reduziert – hier auf die Suche nach Glück. Suchen und Sucht werden synonym.
Laufen, wie Sport allgemein, macht glücklich. Ich tue etwas für mich. Me-Time. Premium-Time, wie man es nennt. Ich versuche, schneller, höher, weiter zu laufen. Ich trete in den sportlichen Wettkampf ein. Ich laufe mit anderen für ein Ziel oder gegen ein anderes Team. Wir verbünden uns im Wettkampf. Für kurze Zeit entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir sind wer. Und nach dem Wettkampf ist vor dem Wettkampf. Oder ich ziehe einsam meine Kreise. Ich tauche in einen Tunnel ab und fokussiere mich auf mein Ziel: die nächste Etappe, den nächsten Rekord. Wenn dieser nationalen Belang hat, umso besser. Dann werde ich sichtbar. Jeder redet über mich. Hast du gehört, der Büttner kann an einem Tag 30 Coachings durchführen? Das hat noch keiner geschafft. Absurde Rekorde in einer absurden Zeit.
Viele coachen, als hätten sie die Antworten auf die Fragen ihrer Klienten. Viele meditieren, weil sie Antworten auf ihre eigenen Fragen erwarten. Viele fotografieren, als hätten sie die Antworten auf nicht gestellte Fragen. Ihre Fotografien sind nutzlos. Sie kreisen nur um sich selbst. In den sozialen Medien und bei Stammtischdiskussionen, in Museen und Galerien, werden sie verstärkt. Sie zitieren viel. Sie kritisieren viel. Sie hören nicht zu. Sie speichern sich aus, wie G. es sagt. Und damit hat er seltsamerweise recht: Viele ähneln einem Computer und handeln entsprechend.
Fragen verflüssigen den fotografischen Prozess, vom ersten Impuls bis zum fertigen Bild, das ich zeige oder veröffentliche. Darüber hinaus befrage ich als Betrachter die Fotografie selbst, den Fotografen, die Umstände und die Intentionen. Wenn alles zusammenkommt, wenn Produzent und Konsument zu einem handelnden Subjekt verschmelzen, entsteht eine Gemeinschaft. Dann haben Fotografien die Chance, Dialoge zu eröffnen und fortzuführen. Dann besitzen sie eine Seele.
Fotografien zeigen nicht die Welt oder die Realität. Sie regen jedoch die Auseinandersetzung mit der Welt und der Realität an. Sie setzen Suchbewegungen in Gang, ähnlich wie die Übungen im Qi Gong. Wir treten in Kontakt mit unseren Ahnen. Im Westen zweifeln wir daran, weil eine biologische, Blut- und DNA-Zugehörigkeit nicht einwandfrei nachgewiesen werden kann. Wir haben verlernt, den Alten zu vertrauen. Stattdessen führen wir Leibesübungen schematisch aus, als ob Bewegung nur ein physikalisches Phänomen sei.
Laden wir uns jedoch selbst zu den uralten Übungen des Qi Gong ein, mit offenem Herzen, spüren wir die Kraft unserer Vorfahren. Wir treten in die Jahrtausende alte Suchbewegung ein und merken, dass Tradition etwas Schönes sein kann.
Wie wohltuend ist der Rausch. Am Abend gehen wir in die Kneipe, treffen Freunde und plötzlich sind wir von Sinnen. Wir torkeln durch die Nacht, durch die Spelunken und Bars der Stadt. Unsere Worte lallen durch die Straßen, niemand außer uns versteht uns noch. Wir versammeln uns auf einer Brachfläche, entzünden ein Feuer und lauschen den Sternen. Früh am nächsten Tag stimmen die Vögel in unser Stimmengewirr ein, geben Zuversicht und Struktur. Der Morgen bricht an, die Dämmerung weicht den ersten Sonnenstrahlen. Es ist noch ganz leise in dieser Stadt. Wir machen uns auf den Heimweg, jeder für sich. Glückselig falle ich ins Bett, träume den Gefühlen der Nacht hinterher und fürchte schon den Alpdruck im Kopf, den Schmerz nach dem Rausch. Manche können nicht genug bekommen, und wir verlieren sie. Wir verlieren sie an die Drogen, die Hast nach dem nächsten großen Ding. Sie werden zu Getriebenen, die einst in einer Mondnacht das Glück der Suche im Rausch fanden.
Im Rausch können wir mit den Göttern, den Vorfahren und den Geistern in Dialog treten. Viele Pflanzen enthalten psychotrope Wirkstoffe, und indigene Gemeinschaften wissen, wie man sie nutzt. Ich kann die Trance, einen rauschartigen Zustand, auch durch Rhythmus erreichen. Trance beschreibt einen temporären mentalen Zustand, in dem das Bewusstsein absinkt. In diesem schlafähnlichen Zustand kann ich mich aus einer Situation zurückziehen, entspannen oder mich intensiv mit einem Thema auseinandersetzen. Im Coaching spreche ich von Problemtrance, wenn der Kunde in seinen Problemen feststeckt. In der Kampfkunst ermöglicht ein Trancezustand ein Kämpfen, bei dem der kalkulierende, berechnende Geist „ausgeschaltet“ ist.
In der Fotografie sind Rausch und Trance eher unbekannt. Man ordnet sie dem Surrealismus und dem automatischen Schreiben (Fotografieren) zu. Trance und Rausch beschreiben zunächst einen Zustand, der es mir ermöglicht, von meinen vorgefassten Bildern loszukommen und mich der Welt, der Realität zu öffnen. Die Kunst des Fotografierens, die vollendete Suchbewegung, umfasst Trance und Rausch, Reflexion und Resonanz. Sie erfordert die bedingungslose Bereitschaft, eins zu sein – eins mit den Menschen, der Landschaft, den Dingen und den nicht-menschlichen Lebewesen.
Fotografieren ist eine Geste des Zeigens. Es bedeutet, auf etwas hinzuweisen und es anderen zu zeigen. Eine gelungene Fotografie geht weit über ein einfaches „Seht, das war so und so“ hinaus. Fotografie ist weder ein Tatsachenbericht noch eine Nachricht oder ein Schulaufsatz.
Seit Mitte der 1950er Jahre hat das Wort „gammeln“ eine besondere Bedeutung erlangt: Es steht für ein gemächliches Bewegungstempo und scheinbar sinnlose Beschäftigungen. In der Verwertungslogik des Kapitalismus scheint Gammeln keinen Platz zu haben. Doch in Wahrheit ist Gammeln die Suche in ihrer reinsten Form. Es bedeutet, einfach älter zu werden, ohne aktives Zutun – ähnlich wie Pflanzen, die von selbst wachsen. Es bringt nichts, an ihnen zu ziehen; sie gedeihen nicht schneller. Gammeln zielt darauf ab, im eigenen Tempo zu wachsen. Ebenso wenig bringt es etwas, an der Jugend oder den Kindern zu ziehen; sie wachsen nicht schneller und werden dadurch auch nicht bessere Menschen. Erziehung hingegen hat das Ziel, das Individuum in das jeweilige Machtregime einzupassen. Dies gilt für jede Gesellschaft, jede Gemeinschaft, jedes Volk.
dreißig speichen umringen die nabe
wo nichts ist
liegt der nutzen des radsaus ton formt der töpfer den topf
wo er hohl ist
liegt der nutzen des topfstür und fenster höhlen die wände
wo es leer bleibt
liegt der nutzen des hausesso bringt seiendes gewinn
doch nichtseiendes nutzenLaudse, Daudesching (Reclam)
Der Umgang mit Macht und das Bewusstsein darüber, wer man ist und welche Privilegien man besitzt, sind von grundlegender Bedeutung. Was bildet die Grundlage der Gesellschaft? Stützt sie sich auf den christlichen, missionarischen Glauben? Versteht sie sich als Konsumgesellschaft? Gilt das Recht des Stärkeren? Hält man den Homo Oeconomicus für gottgegeben? Ist die Gemeinschaft patriarchalisch und hierarchisch organisiert? Wie stabil ist sie gegenüber Veränderungen?
Ich bin in verschiedenen Gemeinschaften aufgewachsen. Zuerst lebte ich in einer katholischen Glaubensgemeinschaft. Dann zog ich in den atheistischen Haushalt meiner Mutter und erlebte parallel den klassischen patriarchalen Familienkontext. Als ich volljährig wurde, zog ich aus und lebte in Wohngemeinschaften. Diese reichten von revolutionären bis zu Liebesgemeinschaften und vielen Mischformen. Mit meinem Auszug begann ich, eigene Gemeinschaften zu gründen, darunter Künstlergemeinschaften. Die wichtigste Gemeinschaft in meinem Leben ist “Fishing for Kompliment”. Sie wurde zum Kern für alle weiteren Gemeinschaften. Selbst das “metalabor” lässt sich auf FfK zurückführen.
Ein zentraler Bestandteil meiner Suche war und ist das Streben nach Verbundenheit. Verbundenheit mit dem Anderen. Verbundenheit mit mir selbst. Verbundenheit mit meiner Umwelt. Diese Suche war und ist ein ständiges Hin und Her. Ich schwankte zwischen Auflehnung, Ablehnung, Widerstand und Zustimmung. Die Fotografie war und ist für mich ein Mittel der Dokumentation und der Reflexion. Sie begleitet mich durch mein Leben. Ich betrachte mich selbst. Von außen. Zum ersten Mal tat ich das im Alter von sieben Jahren. Ich kränkelte und bemerkte, dass sich meine Stimme und mein Atem veränderten. Irgendwann verstummte meine Stimme. Ich bekam immer schlechter Luft. Ich war verwundert, aber nicht in Panik. Wie von selbst und als ob ich das täglich täte, befand ich mich außerhalb meines Körpers und betrachtete mich, aus leicht erhöhter Position, selbst. Ich sah mir zu, wie ich erstickte.
Seit jenem prägenden Erlebnis hat mich die Faszination für Nahtoderfahrungen, für jene Erlebnisse, die weit über das Alltägliche hinausgehen, nicht mehr losgelassen. Ich begann, mich in die Welt der Meditation zu vertiefen, zunächst mit Autogenem Training. Bald darauf erlernte ich die Kunst der Progressiven Muskelentspannung. Und immer wieder ziehe ich mich für ein Wochenende der Stille zurück, um in die Tiefen meines Inneren zu lauschen. Tiefer schauen. Ich bin fasziniert vom großen Lernen, einer alten, chinesischen Schrift, die man kurz und knapp mit „vom Hölzchen aufs Stöckchen und umgekehrt“ umschreiben kann. Es ist mir mittlerweile ein leichtes, von der Innenschau in die Außenschau zu wechseln. Im Taijiquan imaginiere ich den Gegner, bekämpfe ihn und beobachte dabei die inneren Abläufe. Diese bringe ich zugleich ins Außen. So forme ich die Form die mich formt. Ein Kreisschluß. Ein kreisförmiges Lernen.
Service
- Laudse, Daudesching, Reclm, 1978
- Wilhelm Lehmann, Bukolisches Tagebuch, Matthes & Seitz, 2022
- Elke Erb, Das ist hier nicht der Fall, Suhrkamp, 2020
- Torbjøn Ekelund, Gehen, Malik, 2023
- Zone 03, thezonezine.com
- Tim Voors, Allein, gestalten, 2019
- James Joyce, Ulysses, Suhkamp, 2014
- Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Büchergilde Klassik, 2016
- Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Insel, 2008
- Thomas D. Seeley, Auf der Spur der wilden Bienen, S. Fischer, 2017
- Fotografien werden Bilder – Die Becher-Klasse, Hirmer, 2017
- Maschinensehen, Spector Books, 2013
Der Text wurde erstmals am 20.8.2024 auf Dérive & Photography veröffentlicht.