Verbunden-sein

Tathata

Der Verlust von Welt

Als ich das erste Mal eine Kamera vors Auge hielt, verlor ich die Verbindung zur Welt. Das verstand ich allerdings erst viele Jahre später. Denn im Grunde öffnete sich zuerst einmal ein neues Universum. Ein neuer, ein anderer Blick auf die Welt. Ich linste durch den Sucher der Kamera und erblickte neue Details. Ich sah das Licht mit anderen Augen. Ich sah Formen und Geometrie. Ich sah Linien und Flächen auf neue Weise. Auf eigenartige Weise. Ich vereinnahmte die Welt. Ich eroberte die Welt. Ich nahm mir, was mir gefiel.

Zwischen Auslösen und fertigem Bild lag eine Zeitspanne. Manchmal zogen Wochen ins Land, ehe ich die belichteten Filme entwickelte und Abzüge anfertigte. Durch diesen Umstand entfaltete ich eine ausgeprägte Freude am Fotografieren. Es hätte mich nicht betrübt, wenn ich mal keinen Film in der Kamera gehabt hätte. Allein, das Auslösen, das Betätigen des Auslösers, war schon befriedigend.

Die Kamera vorm Auge half mir, im Moment zu sein. Fokussiert. Konzentriert. Mit der Kamera wagte ich mich in heikle Situationen. Sie stärkte mich. Sie gab mir halt. Sie diente mir selbst zum Ansporn. Wage dich hinaus! Stell dich dem Leben! Geh nah heran! Halt keinen Abstand! Fürchte dich nicht! Mit der Kamera vor meinem Auge engte sich mein Blick ein. Meine Sinne verkümmerten. Einspitzigkeit. Eindimensional. Binär. Un-frei.

Mit der Kamera vor dem Auge drang ich in die Welt ein, um mir, zum ersten Mal, meine Welt selbst zu gestalten. Von der Aufnahme bis zum Abzug steuerte ich den Prozess. Und der Prozess steuerte mich. Mit der Fotografie eignete ich mir die Welt an. Meine Fotografien gestalteten Welt. Ich lebte den Moment, und der Moment lebte mich. Ich war mit mir selbst verbunden, aber nicht mehr mit der Welt. Ich war nicht mehr in dieser Welt. Ich war in meiner Welt. Angekommen. Und gefangen.

1994 wurde mir meine Kameraausrüstung gestohlen. Erleichterung. Irgendwie. Befreiung. Irgendwie. Schweres Gepäck, dass ich bis dahin mit mir geschleppt hatte, war weg. Aus heiterem Himmel. Mit einem Mal. Ich hatte plötzlich Zeit, mich wieder zu verbinden. Mit den Dingen. Den Menschen. Mit den Orten.

Ich meditierte viel. An vielen Orten. Ich spürte den Momenten, den Ereignissen, den Erzählungen nach. Ich verflocht die Träume. Die Gedanken. Die Sehnsüchte.

Dann kam die digitale Fotografie. Zuerst nutzte ich Webcams. Dann Trashcams. Smartphone. Nun eine Leica. Ich habe in den vergangenen Jahren um ein Vielfaches mehr an Fotografien produziert, als mit meinen analogen Kameras. Ich verlor mich vollends im Universum der technischen Bilder. Ich taumelte vor Gier in einer endlosen Trance. Das Spiel war das gleiche wie zu analogen Zeiten.

Ich fragte mich, wie das Spiel funktionierte. Welchen Zweck es verfolgte. Welchen Zweck ich in diesem Spiel verfolgte. Welcher grundlegenden Logik ich nachging. Was war mein Leitmotiv des Handelns? Was war es, was mich innerlich antrieb? Fotografierte ich nicht wie jeder andere auch? Ich schoss Bilder (Knipsen taten die anderen, die Laien, die Hobbyfotografen!). Ich eignete mir Momente an. Ich reduzierte das Leben, mein Leben, das Leben der anderen, auf Ereignisse. Hier die Begegnung mit einem Sprayer, dort die Demo gegen irgendetwas. Gelegentlich Natur. Oder Kultur. Auch mal ein Tier. Und immer wieder der Dreck der Stadt, die Lichter, die Menschen. Mein Leben, und das Leben der anderen, war eine Abfolge von Ereignissen. Ereignissen, die Spuren hinterließen. Spuren in Form der Fotos, die ich machte. Jedes Foto eine Spur von etwas Lebendigem. Jedes Ereignis, ein Motiv. Jedes Foto, ein Objekt. Ein totes Objekt.

Was lässt sich als Nächstes verkaufen? Welches Motiv? Welches kann ausgestellt werden? Welches Foto eignet sich dazu? Welches müsste ich als Nächstes schießen? Wohin muss ich meinen Blick richten? Wie kann ich Situationen und Momente produzieren, um das nächste geile Bild zu schießen? Ich war auf der Jagd nach Momenten und vergaß zu leben. Es war kein Leben mehr möglich, weil ich ohne Verbindung war. Ich setzte mich auf Kosten anderer durch. Ich stahl ihre Momente, ihre Geschichten, ihre Geheimnisse des Lebens, um sie auf meinen Fotografien zur Schau zu stellen. Ich stellte mich über Situationen und Geschehnisse, um sie fotogen zu inszenieren. Ich entschied, was überhaupt fotogen ist und was nicht. Ich machte aus Erzählungen Motive. Und ich entschied, was innerhalb des Bildrandes zu sehen ist und was nicht. Ich selektierte. Ich differenzierte. Ich enteignete. Ich stahl. Ich bereicherte mich.

Gewinn. Gier. Ego.

Jedes Foto ein Gewinn. Mehrwerte nur für mich. Nur für mich. Sei es Anerkennung. Sei es Geld. Seien es Empfehlungen. Für mich. Nur für mich. Ich sitze einer Logik auf, einer Gewinnlogik, die nur ein weiter, ein mehr und mehr und mehr kennt. Fotografie macht gierig. Immer weiter. Immer höher. Immer tiefer. In die entlegensten Regionen. An die Polkappen der Welt und darüber hinaus, zum Mond und in die Weiten des Kosmos. Der Fotograf übernimmt gewaltvoll das Land und das Leben der anderen. Er stellt es zur Schau. Er beutet es aus. Er schändet es. Er vergewaltigt es. Und hinterlässt nichts. Nichts als Verwüstung. Verwüstung der Seelen. Er überschreibt die Kultur der anderen, der Abgebildeten. Er trennt die Welt in Mensch und Nicht-Mensch. Er trennt die Menschen in Weisse und Schwarze. Er gibt nichts. Er gibt nichts zurück. Er teilt nicht. Im besten Fall verteilt er Abzüge seiner Fotografien an die Fotografierten. Er verteilt Almosen. Er stellt sie aus. Die Almosenempfänger. Wie Trophäen. Wie Beutestücke. In den Kunstpalästen der Unterdrücker dieser Welt. Der Kolonialisten. Der Ausbeuter. Der Fotograf folgt den Kolonialisten auf den Fuß. Er selbst ist ein Kolonialist. Seine Bilder dienen anderen als Vorlage für Listen. Listen, die die Objekte, die auf den Fotografien abgebildet sind, freigeben zum Abschuss, freigeben zur Ausbeutung. Freigeben zur Unterdrückung. Listen des Rassismus. Listen des Sexismus. Listen des Nationalismus. Listen der Ausgrenzung. Die Fotografie ist das Handwerk des Todes. Des Todes der Gemeinschaft. Der Mitwelt. Der Seelen. Der Fotograf denkt, er sei neutral. Er denkt, er sei professionell. Er denkt, er sei ein Künstler. Und doch liefert er dem Regime, den Verfolgern, den Schurken frei Haus das Material, nach dem sie sich sehnen: Informationen. Informationen für weitere Listen des Todes.

Fotografie, ist embedded. Sie ist in den Fortschritt eingebettet. Fotografie ist ohne den „Fortschritt“ nicht denkbar. Fotografie ist ein Produkt des Fortschritts. Dieser Fortschritt fusst auf das sich Durchsetzen auf Kosten anderer. Auf Konkurrenz. Auf Hierarchie und Ausschluss (manchmal durch Einschluss). Das, was als Fortschritt bezeichnet wird, ist tatsächlich blanker Kolonialismus. Fotografie folgt den Produktionslogiken der Industrie. Der Gewinnlogik des Kapitals. Der Macht. Dem teile und herrsche. Fotografie, wie jede Autorschaft im Spätkapitalismus, ist nur denkbar auf Basis des Privateigentums. Fortschritt und Gewinnlogik trennen Mensch und Natur. Die Verbindung ist zerbrochen. Sie ist gerissen. Wir nabeln nicht mehr an der Welt. Wir sind nicht mehr in der Welt.

Techfirmen beglücken uns mit aberwitzigen kleinen Rechenmaschinen, mit denen wir Bilder auf digitalen Plattformen zur Schau stellen können. Binnen Sekunden können wir eine anonyme Masse an unserem Leben als Surrogat teilhaben lassen. Dabei ist nicht mehr zu unterscheiden, was der Halluzination der Algorithmen entspringt und was nicht. Wenn es jemals einen Fehler im System gab, heute ist das System der Fehler. Wir haben aufgehört, die Zukunft zu träumen.

Unsere Hirne, unsere Seelen, unsere Gemeinschaften sind kolonialisiert von den zersetzenden Giften der Gewinnlogik. Der Gewinnmaximierung zulasten aller. Wir können uns nicht mehr vorstellen, dass wir selbst handeln können. Dass wir selbst entscheiden können. Dass wir selbst Gemeinschaft sind. Dass wir geben können, ohne nehmen zu müssen. Dass wir teilen können. Dass wir Wissen und Erzählungen und Geheimnisse des Lebens teilen können. Stattdessen begnügen wir uns mit teilhaben. Wir möchten teilhaben an Prozessen. An Entscheidungen. Am Gewinn. Wir delegieren Verantwortung und wundern uns, dass gegen uns entschieden wird. Wir wollen doch nur ein kleines Stück vom Kuchen. Koste es, was es wolle. Wir glauben an das Märchen vom Glück. Dass auch wir es schaffen. Wir schauen uns auf Instagram die Bilder aus der Welt der Reichen, der Schönen, der Hässlichen an. Wir nähren unsere Seelen mit Instantnahrung. Schnell verdaulich. Suchtfördernd. Toxisch.

Wir erfinden die irrsinnigsten Wahrheiten, nur um einander zu versichern, dass alles gut ist, wie es ist. Wir fürchten die anderen, die noch autoritärer sind als wir. Wir fürchten aber vor allem die, die sich den Giften und der Gier der Gewinnlogik widersetzen. Sie bedrohen uns und unser Handeln und unseren Glauben. Wir pfeifen im Wald. Wir halten die Hände vor die Augen und denken, wir sind unsichtbar.

Wir träumen nicht mehr die Zukunft. Und das ist eines der größten Verbrechen, die wir begehen. Zulasten der Jugend. Zulasten indigener Gemeinschaften. Zulasten der Mitwelt.

Die Produktion der Gewinnlogik entreißen.

Ich bin traurig. Ich sitze ratlos vor meinem Rechner. Scrolle durch den Berg meiner digitalen Fotografien. Tausende Momente. Tausende Momente fremden Lebens. Tausende Momente meines Lebens. Was immer ging, habe ich in Büchern publiziert. Ich tat dies in der Hoffnung, andere zu begeistern. Allein, es entstand keine Gemeinschaft. Ich habe nichts erzählt. Und es gibt sehr viele, die wie ich Bilder publizieren und ausstellen und nichts zu erzählen haben. Ich bin nicht allein. Und doch bin ich vereinzelt. Reduziert auf mich selbst und das blanke Leben. Es gibt keinen Halt. Es gibt kein Morgen. Mir bleibt nur der Moment. Und der nächste Moment. Und der nächste. Und so reihe ich Moment an Moment und verändere mein Leben. Erst unmerklich. Dann spüre ich es. Es riecht anders. Meine Sinne erwachen wieder. Ich fühle. Ich schaue. Ich schnuppere. Alles ist Energie.

Dann sitze ich im Bus auf den Weg nach Wiesbaden und ich sitze nicht allein im Bus und es steigen immer mehr ein und dann ist der Bus voll mit Menschen, mit Kindern, mit Müttern, mit Ausflüglern, mit Alten und Jungen und Trunkenen und Kranken und der Bus fährt gemächlich durch die Landschaft und die Luft im Bus wird stickig und es ist laut und es stinkt und alles ist voll brodelnder Energie und Kraft und dann bedanke ich mich für die Kraft und Energie und ich bedanke mich bei dem schreienden Kind und dem übel riechenden Herrn und den Ausflüglern und dem Busfahrer für all diese Energie und Kraft, an der ich teilhaben darf und auf einmal bin ich nicht mehr genervt und voller Gram, sondern voller Freude und ich bin, ich bin in Verbindung mit den Menschen in diesem Bus.

Ich habe keine Kamera dabei.

Ich schöpfe Hoffnung, weil es da draußen so viele gibt, die anpacken. Die das Andere wagen. Die Gemeinschaften aufbauen. Die wieder die Sprache des Lebens erlernen. Die in Verbindung treten. Miteinander. Die wissen, dass das Eine durch das Andere existiert.

Dann nehme ich meine Bilder und erzähle mir Geschichten. Ganz leise murmele ich vor mich hin. Suche die Worte. Summe die Worte. Träume die Worte. Träume die Worte herbei. Die Worte werden zu Sätzen und bekommen Bedeutung. Und ich spreche sie lauter und lauter. Und ich werde gehört und bekomme Erwiderung. Ich bin nicht allein.

Ich war oft am Ende, fertig und allein.
Alles, was ich gehört hab, war: “Laß es sein!
So viel Kraft hast du nicht, so viel kannst du nicht geben.
Geh den Weg, den alle geh’n, du hast nur ein Leben.”

Doch ich will diesen Weg zu Ende geh’n,
und ich weiß, wir werden die Sonne seh’n!
Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.

Manchmal bin ich kalt und schwer wie ein Sack mit Steinen.
Kann nicht lachen und auch nicht weinen.
Seh’ keine Sonne, seh’ keine Sterne,

und das Land, das wir suchen, liegt in weiter Ferne.
Doch wir werden diesen Weg zu Ende geh’n,
und ich weiß, wir werden die Sonne sehn!
Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten

(Rio Reiser, wenn die Nacht am tiefsten, 1975)

Wir erzählen uns Geschichten und wir reichen die Fotos, die Ereignisse zeigen, reihum und bereichern unsere Erzählungen. Unsere Fotos trennen uns nicht mehr. Trennen uns nicht mehr von der Mitwelt. Sie bereichern. Sie bereichern uns das Leben. Sie werden zu einem „schaut, was wir gemeinsam erlebt haben“. Sie sind keine Fetische mehr. Wir beten sie nicht mehr an. Sie sind keine Surrogate mehr. Sie stellen sich nicht mehr vor die Welt. Wir stellen sie nicht mehr vor unsere gemeinsame Welt.

Fortschritt ist möglich. Dazu müssen wir die kollektiven Traumen von Elend, Krieg, Ausbeutung und Zerstörung überwinden. Wir müssen die Konflikte durchleben. Wir haben lange genug die Schmerzen verdrängt. So wurden die Traumen von Generation zu Generation weitergegeben. Wir müssen die Konflikte durchleben. Wir müssen die Traumen heilen lassen. Erzählungen haben die Kraft, zu heilen. Erzählungen haben die Kraft, die Zukunft zu träumen. Wir müssen unsere Sprache dekolonisieren. Unser Denken befreien. Unser Handeln. Wir stehen nicht an der Spitze der Evolution. Wir machen uns nicht die Erde untertan.

Erzählungen können heilen. Wenn sie bewegen. Wenn wir uns bewegen. Ganz leicht. Ganz zärtlich. In täglichen Übungen und Routinen üben wir das neue Erzählen. Das ist das ganze Geheimnis. Das weiß jeder Körper. Auf die Gelehrigkeit der Körper zielt jede Macht. Es liegt in unserer Macht, ganz im kleinen, Neues zu lernen. Altes zu erspüren. In unseren Körpern schlummert das uralte Wissen unserer Vorfahren. Es liegt an uns, zu lauschen, zu spüren, zu schauen. Zu teilen. Ressourcen zu schonen. Dem Gemeinwohl zu dienen. Zärtlich zu sein.

Am Morgen gehe ich schon früh in den Garten, um die lange Yang-Form zu laufen. Es ist mir zur Gewohnheit geworden. In sanften Bewegungen bringe ich meinen Körper und meinen Geist in Schwung. Die Kraft borge ich von meiner Mitwelt, der Gedanke kommt von mir. So übe ich. Zum Abschluss stehe ich eine Weile still, lege die Hände auf den Unterbauch, atme tief ein und aus. Ein und aus. Einatem. Ausatem. Ein. Aus. Ich schaue weit. Ein Gefühl der Geborgenheit im Schoße der Welt breitet sich aus.

Erzählungen können heilen. Taijiquan wie auch Qi Gong sind sanfte Bewegungsformen, die den Erzählungen des Körpers folgen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Meridiane. Diese sind die Bahnen, denen die Qi Gong Bilder und die Taijiquan Formen folgen und nachspüren. Schmerzen wirken wie ein Staudamm, wie eine Blockade, die dem Erzählstrom, dem sanften Fließen der Energie, widersteht. Im Taijiquan wie im Qi Gong lösen wir diese Blockaden durch die Erzählkraft des Körpers auf. Im Coaching lösen wir die Problemtrance auf und erarbeiten Handlungsoptionen.

Das innere Licht ist
Jenseits von Lob und Tadel
Grenzenlos wie der Raum

(Yongjia Xuanjue, Shodoka, 8. Jh.)

Die Fotografie wird sich ändern, wenn sich die Haltung ändert. Fotografie wird sich ändern, wenn sie dekolonialisiert wird. Fotografie wird der Gemeinschaft dienen, wenn sie nicht mehr über die Erzählungen gelegt wird.

Fotografien zeigen nicht das Leben. Sie zeigen, was der Fotograf zeigen möchte. Sie zeigen seine Interpretation des Lebens. Sie zeigen winzige Ausschnitte dessen, was dem Fotografen durch den Kopf geht. Fotografien zeigen vorwiegend das, was sie nicht zeigen. Vergewaltigung. Imperialismus. Kolonialismus. Ausbeutung. Krankheit. Seelische Verwüstungen. Es sind die Erzählungen, die Berichte, die Montagen, die Reportagen, die Zusammenstellungen, die einen Blick auf Geschehenes ermöglichen.

Fotografien sind Anker. Sie ankern an vergangenen Momenten. Sie haben den Drang, sich aufzuspielen. Sie möchten sich über alles und jeden legen. Ein Grauschleier, der immer dichter und undurchdringlicher wird.

Fotografien tun dies nicht von sich aus. Sie legen sich nicht über die Erzählungen. Sie werden über die Erzählungen gelegt. Von uns.

Vom Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es sehr viele Fotografien. Fotografien von zerstörten Städten. Zerstörten Häusern. Zerstörten Landschaften. Von Trümmerfrauen. Die Fotografien lassen das Leid erahnen. Sie zeigen es nicht. Sie zeigen nicht die massenhafte und systematische Vergewaltigung der Frauen durch die Sieger1. Hat nicht schon der Krieg selbst und der Krieg vor diesem Krieg und der davor und der davor unzählige Traumen produziert? Wie soll all dieses Leid, wie sollen all diese Konflikte, die von einer Generation zur nächsten und von dieser zur nächsten weitergegeben wurden und werden, jemals heilen? Sherri Mitchell fordert uns dazu auf, die Traumen heilen zu lassen. Sie selbst weiß, wovon sie spricht, erleidet doch ihre Gemeinschaft seit Jahrhunderten die direkten Auswirkungen der Kolonisation. Und ich bin ein Nachfahre dieser Kolonialisten, die von Europa aus aufbrachen, um Unheil über die Schildkröteninsel zu bringen. Das Eine existiert durch das Andere. Es ist unser gemeinsamer Schmerz. Unser gemeinsamer Konflikt. Ich habe die Möglichkeit, diesen Konflikt zu beenden. Zumindest kann ich mein Streben, meine Handlungen und mein Tun danach ausrichten.

NO MATTER, NEVER MIND

Der Vater ist die Leere
Die Mutter Wellen

Ihr Kind ist Materie.

Materie liebt seine Mutter
Und ihr Kind ist Leben,
eine Tochter.

Die Tochter ist die Grosse Mutter
Die, den Vater/Bruder Materie
als Geliebten,

Den Geist gebärt.

(Gary Snyder, Schildkröteninsel, Stadtlichter Presse, 2016)

Unsere Sprache feiert Pronomen und die Substantivierung der Welt. Unsere Sprache trennt uns von der Welt. Robin Wall Kimmerer schlägt eine Grammatik der Lebendigkeit vor. Sprache, die Einssein mit allem Lebendigen ermöglicht und nicht Sprache, die trennt. Wenn wir die Grammatik der Lebendigkeit erlernt haben, was werden dann unsere Fotografien zeigen? Und was nicht?

Garten sein. Wald sein. Feld und Wiesen sein.

Unsere Grammatik der Sprache manifestiert eine Hierarchie des Seins. Wir teilen in belebt und unbelebt, in menschlich und nicht-menschlich. Alles nicht menschliche Leben, es, die, Bäume, Gras, Tiere und Insekten, steht unter dem Menschen. Es existiert, aber es denkt nicht, es spricht nicht, es fühlt nicht. Es dient uns zu Projektionen, aber es selbst hat keine Geschichte, keine Gefühle, keine Erinnerungen. Das Pronom es stumpft uns ab in Bezug auf unsere Handlungen. Mit es bezeichnen wir die anderen, den Feind, das unwerte Leben. Es sind in unserer Sprache Indigene, Palästinenser, Menschen jüdischen Glaubens, Roma, Sinti …

Es ist der Wald, die Steppe, das Grasland, der Urwald, die Berge, die Seen, die Meere. Es sind die Bewohner der Flüsse, der Seen, der Berge, der Steppe, der Wälder, der Meere. Wir und unsere Vorfahren jagen die, wir beuten die aus, wir rotten die aus, wir schlachten die ab, wir vernichten die. Seit Jahrhunderten stumpfen wir ab und stumpfen ab und stumpfen ab und verdrängen das Leid und erfinden neue Welten und andere Aufzählungen. Wir erzeugen Bilder, die sich über das Leid legen sollen. Auf den Plattformen versammeln sich Millionen von Bildern, die sich über das Leid, die Traumen legen, in dem sie den digitalen Raum selbst kolonialisieren. Indem sie die Gedanken, die Meinungen, die Riten, die Lieder, die Zeremonien, die heiligen Handlungen, die Gemeinschaften kolonialisieren. Das Gift der Gewinnlogik, der Verwertungslogik, der Zweckrationalität vervielfacht sich, verästelt sich mit jedem Nutzenden.

Wir nutzen es und die, um uns zu distanzieren. Wir verdinglichen die Welt. Können wir, so fragt Kimmerer, die Sprache der Verdinglichung entlernen und kolonisiertes Denken verwerfen? Können wir mit neuen Wörtern eine neue Welt erschaffen? Ki, so schlägt sie vor, könnte alle Wesen dieser lebendigen Erde bezeichnen. Nicht es, nicht die. Ki. Wenn du ki sagst, statt es, wirst du merken, wie sich dein Denken verändert.

Ki klingt wie Qi. Der chinesische Begriff Qì, auch als Ch’i, in Japan als Ki und in Korea als Gi bekannt, bedeutet Energieströme im Körper, Atem oder Fluidum, kann aber wörtlich übersetzt auch Luft, Gas, Dampf, Hauch, Äther sowie Temperament, Kraft oder Atmosphäre bedeuten. Qi bezeichnet die Lebensenergie und den Lebensfluss. Qi ist in allen lebenden Wesen. Qi Gong ist eine Jahrtausende alte Bewegungskunst mit tiefen Wurzeln im Schamanentum.

Das Spiel der fünf Tiere nimmt deutlichen Bezug auf die Tierwelt. Wir ahmen im Qi Gong spielerisch markante Merkmale, markante Bewegungen der Tiere nach. Wenn wir so üben, bitten wir den Bären, den Tiger, den Hirsch, den Kranich, den Affen, dass sie ihre Energie und ihre Kraft mit uns teilen. Wenn wir üben, dann sind wir Teil von ihnen und sie von uns. Wir sind miteinander verbunden.

Fotografie ist eine Kooperation zwischen dem Fotografierenden und den belebten Wesen und den Dingen. Das Eine existiert durch das Andere. Als Fotograf respektiere ich die Autonomie derer, die ich um die Erlaubnis bitte, sie fotografieren zu dürfen. Meine Fotografien werden Teil der anderen. Ich bin lediglich Mitbesitzer. Die Nutzungsrechte gehen an die Gemeinschaft. Ich verdiene kein Geld an und durch meine Fotografien, denn sie sind eine Gabe an die Gemeinschaft. Ich kann mich nur durch die Entfaltung der anderen selbst entfalten. Zusammen träumen wir die Zukunft. Das bedarf Zeit. Die Alten, unsere Vorfahren, nahmen sich die Zeit. Entscheidungen wurden wohldurchdacht. Alle Betroffenen wurden gehört. Sie entschieden im Konsens. Der Konsens wurde nicht durch Verknappung der Zeit erzwungen.

Wir träumen wieder die Zukunft. Verbunden sein.

Es war 1986. So um den Dreh gründeten wir (Marcus, Bernhard, Apfel und ich) die Fotogruppe, die wir schon bald Fishing for Kompliment (FfK) nannten. Wir waren überzeugt, eine Gruppe benötigt einen Namen. Aus der Gruppe, die sich anfangs lediglich als Fotogruppe verstand, wurde mit der Zeit eine Gemeinschaft. Wir arbeiteten gemeinsam an Konzepten, entwickelten Ideen und bereiteten Ausstellungen vor, die wir später Zeigung nannten. Die Autorschaft lag immer in der Gruppe und denen, die mithalfen oder die wir einbezogen hatten. Die Autorschaft lag in der Gemeinschaft. Alle Werke, alle Arbeiten von FfK, entstammten der jeweiligen Gemeinschaft, dem jeweiligen Kollektiv. Das Eine existiert durch das Andere. Die Hyperrealistische Komposition No. 1 nahmen wir zu dritt auf. Mitgewirkt hatten jedoch eine ganze Reihe an Künstlern, Mitbewohnern, auch unser Mentor Klaus Dettke, unsere Freundinnen und das Café Klatsch Kollektiv. Der Prozess des Schaffens begann mit der Idee und hörte mit der Präsentation im Café nicht auf. Das Bild hing eine lange Zeit hinter dem Tresen des Cafés, bis eines Tages irgendwer es mitnahm und es aus unseren Blicken verschwand. Das Werk entstand im Kollektiv. Es war für das Kollektiv. Das Kollektiv, die Gemeinschaft selbst änderte sich fortwährend. Ausgehend von uns dreien, den Freunden, den Kollektivisten des Café Klatsch, den Gästen. Die Arbeit, die Hyperrealistische Komposition als Kunstwerk zu verstehen, gelingt nur, wenn die unterschiedlichsten Theorien und Kunstkriterien zugleich angesetzt werden. Im Grunde standen wir ausserhalb jedes Kunstmachens. Wir standen jenseits jedes Kunstverständnisses. Wir folgten einem Impuls und schauten, was daraus folgte. Wir waren offen, wir waren neugierig. Mehr als fünfzehn Jahre arbeiteten wir in und mit der Gemeinschaft FfK. Wir riefen das Atelier Bratwurst ins Leben, veranstalteten die 48h kunst los, wir schickten den Reisenden auf Reisen. Wir machten Musik mit dem Noise-Trash-Ensemble Blutiger Mischwald und dem Projekt Nerd Pop Music, wir luden ein ins Laboratorium, ins Museum Wiesbaden zum Borderline Kongress. Wir schafften Räume, in denen sich Gemeinschaft entfalten konnte. Nach der Jahrtausendwende starteten wir das Serverfestival, welches seitdem ohne Unterbrechung stattfindet. Und keiner weiß, was es ist, was es sein will und ob es gerade dort, wo man sich befindet, wirklich ist. Die Gemeinschaft FfK besteht bis heute und sie stiftet nach wie vor Gemeinschaften. Auch wenn diese Gemeinschaften temporärer Natur sind, wie das metalabor, sie kommen zusammen und über eine bestimmte Zeit sind sie die Ursache von allen möglichen unerklärlichen Dingen.

Service

  • Christoph Thun-Hohenstein, Klimaresonanz, Spector Books, 2024
  • Gary Snyder, Schildkröteninsel, Stadtlichter Presse, 2006
  • Robin Wall Kimmerer, die Grammatik der Lebendigkeit, W_orten & meer, 2023
  • Robin Wall Kimmerer, geflochtenes Süßgras, aufbau, 2021
  • Sherri Mitchell, Aktivismus heißt Verbindung, W_orten & meer, 2020_
  • Festival für Fotografie Leipzig 2016, Spector Books, 2016
  • Stephanie Kiwit, Flächenland (2020–2023), Spector Books, 2023
  • Michael Herr, an die Hölle verraten, Rogner & Bernhard, 1979
  • Jean-Philippe Toussaint, der Photoapparat, suhrkamp, 1994

Der Text wurde erstmals am 22.07.2024 auf Dérive & Photography veröffentlicht.