WAS und WIE
Gestaltung von Welt
Liebe Tochter,
komplex, sagt man mir, komplex sei die Welt. Die Ordnung der Dinge drohe in Unordnung zu geraten. Die Zügel drohen uns zu entgleiten. Ich soll nicht wie die Bienen an unendlich vielen Blüten schnuppern, sagst Du. Ich soll mehr wie die Hummel auf einer Blüte liegen und mich auf diese fokussieren, sagst Du.
Wenn das WIE unbekannt ist und auch das WAS, dann, so denke ich, fühle ich mich wohl. Wohl dann, auf ins Unbekannte! Da, wo andere vor vermeintlichem Chaos zurückweichen, fühle ich mich heimisch. In dieser vermeintlichen Terra incognita kann ich gestalten. Die Welt, mein Heim, mich selbst. Hier, in der Terra incognita sind die Regeln bislang nicht erstarrt. Hier schreibt mir kein Niemand etwas vor.
Anders verhält es sich in den geregelten Diskursen der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik. Ich schrecke zurück und denke kurz, da bin ich nicht, das kann ich nicht. Das denke ich, aber nur kurz.
Dir habe ich es gesagt.
Und nun lese ich Deine Hausarbeit. „Grenzen und Grenzgänger. Die Auswirkung von Raumpolarisierung auf Mensch-Tier Relationen“. Zum wiederholten Mal. Merke ich, als ich zu lesen anfange.
Ich unterliege keinem Diskursgefüge. Ich schreibe, wie mir die Gedanken kommen. Und die, die mäandern durch meinen Kopf.
Bildgebungsverfahren, Satelliten und Expeditionen in die hintersten Winkel der Erde haben jeden Zipfel, alles Land und das Meer ausgeleuchtet. Es gibt nichts Unbekanntes mehr. Selbst die Abgründe der Seele sind vermessen. Die Terra incognita existiert nicht mehr.
Im Grunde gab es nie eine Terra incognita. Da, wo Menschen leben und lebten, wussten und wissen sie um das Land, auf dem sie lebten und leben. Und sie wussten und wissen davon in Zeichnungen und Gesängen zu berichten. Und es gab und gibt immer das Land, von dem sie wussten und wissen, es aber noch nie betreten hatten und haben. Das Land, von denen andere erzählten und erzählen. Reisende. Welten-Wanderer. Ausserirdische.
Sie erzählen von den Grenzen, die Räume trennen. Von Wegen und Hecken, die die Wildnis der kleinbürgerlichen Heimstatt von seinem urbanen Umfeld trennen.
Eine Teilnehmerin meiner Coachingausbildung berichtete, dass sie von Beduinen über einen langen Zeitraum deren Gesänge erlernte, mit deren Hilfe sie mehrere Tage alleine durch die Wüste lief, um am vereinbarten Treffpunkt, einer Oase, einzutreffen. Lebend und bei bester Gesundheit traf sie singend auf die alten Beduinen, die auf sie vertrauten und denen sie vertraute. Zärtliche Verbundenheit.
Vor Tagen erwanderte ich erneut die Limburger Nordroute. Schon nach wenigen Kilometern traf ich auf ein Hindernis. Durch die starken Regenfälle der letzten Wochen war an einem Hang das Erdreich so stark aufgeweicht, dass ein Baum sich mitsamt seinem Geäst quer zum Weg gelegt hatte. Ich musste meinen Rucksack abnehmen und unter dem Geäst durchkriechen.
Der Wanderweg wurde von der Natur gestaltet. Oder gab ich der Natur erst Gestalt? Nachdem ich das Hindernis überwunden hatte, machte ich ein paar Fotos, um den Wegwart über das Hindernis zu informieren. Ich dokumentierte dass, was nicht sein darf. Aus Sicht des Wanderers.
Wege sind Grenzen. Sie trennen den Raum auf in die Bereiche links und rechts des Weges. Im Wald soll ich die ausgeschilderten Wege nicht verlassen. Manchmal halte ich mich daran. Meist aber komme ich mir vor, wie ein Grenzgänger.
Eine Digitalkamera ist komplex. Ich, der Fotografierende, habe keinen wirklichen Einblick in das, was die Kamera computiert. Die Kamera ist eine Blackbox.
Die Bedienung der Kamera ist kompliziert. Nicht sehr, aber kompliziert. Ich habe unterschiedliche Knöpfe und Drehräder, mit denen ich Zeit und Blende und Schärfe und ASA und Belichtungsprogramm bestimmen kann. Mittlerweile sind mir die Bedienelemente vertraut.
Bei der Dokumentation des Hindernisses auf meiner Wanderung habe ich mich der Automatik der Kamera bedient. Ich habe lediglich den Bildausschnitt bestimmt. Den Rest hat die Software computiert. Also die Bestimmung von Zeit und Blende und ASA und Schärfeneinstellung.
Die Welt ist seit Anbeginn der Zeit komplex. Sie ist uns unbekannt. Technik hat uns geholfen, die Küstenlinien der Kontinente und Inseln bis ins kleinste Detail zu bestimmen und auf Karten abzubilden. Kann man sagen, dass die Küstenlinien durch die Technik immer komplizierter wurden? Zumindest wurden sie detailreicher.
Allen Ginsberg erhielt von der Fotografin Berenice Abbott den guten Rat, kein Knipser zu werden. Um richtig zu fotografieren, solle er mit einer Großbildkamera arbeiten, sonst habe er keine Details auf dem Negativ.
Heute benötige ich keine Großbildkamera, um Details auf dem Negativ zu haben. Die Technik ver-kompliziert. Sie schafft Details. Keine Erkenntnis.
In der Zen Malerei, wie in der chinesischen Tuschmalerei, begnügen wir uns mit der Farbe Schwarz in all ihren Schattierungen, bis zum Weiß, um die Welt darzustellen. Besonders die Schönheit in der Welt.
Die Zen Malerei ist kompliziert, weil sie mit der Technik der Tuschmalerei die Komplexität der Welt in all ihrer Pracht und Farbigkeit reduziert.
Die Welt stellt sich jeder Mensch anders vor. Das Rubinrot, wie ich es sehe und mir vorstelle, siehst Du mit ganz anderen Augen.
In meiner schwarz-weiss Fotografie kannst Du Dir das schönste Rubinrot vorstellen, dass Du jemals gesehen hast. Sieh hin und entdecke es. Im Schwarz-Weiß meiner Fotografien stecken alle Farben dieser Welt.
Komplex sagt man mir
Komplex sei der Weltenlauf
Ordne die Dinge
Ein Haiku kann man als Kurzform einer Liste betrachten. Sie dient dazu, eine Momentaufnahme wiederzugeben. Ich beobachte ein Geschehen genau und bringe eine Stimmung zum Ausdruck.
Durs Grünbein hat Reisetagebücher in Haikus niedergeschrieben. Er nennt sie eine günstige Alternative zum Polaroidfoto.
17 Silben, in etwa, können die Welt bedeuten. Sie können innen und außen affizieren. Sie sind ähnlich einer Doppelhelix. Sie be-deuten die DNA der Welt.
Fotografien können diesen Grad an Reduktion nie erreichen. 48MP lassen sich nicht auf 17 Silben reduzieren. Und wenn doch, wozu? Die Technik hat Kompliziertes zum Ziel. Sie reduziert die Komplexität. Sie meint damit, Welt gestalten zu können. Doch die Welt ist nicht kompliziert.
Borges schrieb:
Die Tiere lassen sich wie folgt gruppieren:
a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppe gehörige, i) die sich wie toll gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, i) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von Weitem wie Fliegen aussehen.
Diese Taxonomie greift später Foucault in seinem Buch „Die Ordnung der Dinge“ auf. Taxonomien gestalten Welt. Taxonomien dienen dazu, unbekanntes in Bekanntes zu wandeln. Taxonomien legen den Grundstein, ein Wissensgebiet zu erfassen und Erklärungen von Zusammenhängen aufzustellen.
Du schreibst, „In Bezug auf Räume in der Literatur ist es wichtig, eine grundlegende Bedeutung des Raumes im literarischen Raum hervorzuheben. Hierzu ist es sinnvoll, den Ausdruck ‚Raum‘ morphologisch zu ‚Raumdarstellung‘ zu erweitern“.
Morphologische Untersuchungen können unterschiedliche Ziele haben.
Die Nordroute Limburg, wie sie in Wanderkarten bezeichnet wird, führt den Wanderer um Limburg herum. Die Stadt Limburg befindet sich im Limburger Becken. Das Limburger Becken ist die Raumdarstellung, denke ich. Dort findet sich die Gesamtheit der Konzeption, Ausgestaltung und Strukturierung der Schauplätze, als da wären:
– Staffel
– Offheim
– Elz
– Ahlbach
– Dietkirchen
– Eschhofen
Das sind die Stadteile, die durch die Nordroute für den Wanderer erschlossen werden. Die Wegführung ist einfach. Durch gutes Kartenwerk leicht aufzufinden und abzulaufen. Die Erlebnisse unterwegs sind Komplex. Wie kann ich als Wanderer wissen, was mich nach der nächsten Biegung erwartet? Unter Wanderern sagt man, wo immer wir wandern, winken Wunder. Eine wunderschöne, romantische Sicht auf die Dinge, finde ich.
Als ich die Nordroute vor Monaten das erste Mal erwanderte, sah ich Rehe, Feldhasen und anderes Getier. Das war dieses Mal nicht so.
Die Ausgestaltung der Orte als Räume, die zu Projektionsflächen für Stimmungen oder Ausdrucksträger kultureller Vorstellungen werden, steht noch aus. Ich fürchte, dazu muss ich noch einige Male die Nordroute erwandern oder einzelne Orte gezielt aufsuchen. Ich könnte mich auch ins Stadtarchiv begeben und zu den Orten recherchieren. Ich könnte auch, und dagegen spricht nichts, die Orte durch meine Fantasie zu Räumen transformieren. Ihnen Gestalt geben und Handlung. Warum nicht das Selbstverständliche hinterfragen, fragte mich ein befreundeter Zen Mönch.
Wald, Wiesen, Felder, Stadteile. Das sind die Räume, die ich durchwanderte. Den Wald musst Du Dir winzig vorstellen. Es waren eher Wäldchen. Hier passt die Verniedlichung. Wiesen und Felder sind der prägende Raum des Limburger Beckens und dann natürlich die Stadteile. Wege können als Grenzmarkierungen, als Grenzlinien gesehen werden. Grenzgänger sind das Getier, das ich aufzählte: Feldhase, Reh, Igel und anderes Getier. Sie haben alle ihre eigene Geschichte, fast würde ich Last sagen, zu tragen. Oft entstammen die den Märchen der Gebrüder Grimm. Zumindest den Geschichten, die diese zusammengetragen haben. Und sicherlich, und darüber unterhielten wir uns, auch dem Mittelalter. Du studierst es ja. Und als wir über Emotionen sprachen, denen Du Deine Bachelorthesis gewidmet hast, fiel mir von Şeyda Kurt das Buch Radikale Zärtlichkeit ein und wir sprachen über den Schmerz der Liebe und Ovid.
Inneres und Äußeres, Seele (Geist) und Körper sind unmittelbar verbunden. Der Zen Mönch meinte zu mir, es sei ratsam, ein streng geregeltes Leben zu führen. Du weißt, wie schwer mir das fällt. Erst letztens fragtest Du mich, ob ich ADHS habe. Es könnte meine stete Unruhe erklären, aber ich glaube nicht, dass ich darunter leide.
Der Vorteil des geregelten Lebens sei, so der Mönch, dass es mir ermögliche, Veränderungen in meinem Leben wahrzunehmen. Wenn meine Abläufe täglich die gleichen sind, wenn mir mein Tun vertraut ist und es mir einfach von der Hand geht, dann bin ich imstande, feinste Nuancen der Veränderung wahrzunehmen. Nun fehlt mir die Zeit, täglich die 31 Kilometer der Nordroute zu erwandern. Was bedauerlich ist. Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als in größeren Abständen die immer selbe Route zu erwandern und auf Veränderungen zu schauen. Mich den Veränderungen nicht verschließen. Das ist auch ein Grund, meine Kamera mit mir zu führen. Sie ist eine nüchterne Maschine, um Zeit festzuhalten. Im Vergleich der angefertigten Fotografien kann ich mögliche Veränderungen entdecken, die mir sonst verborgen blieben. Veränderungen im Außen wahrzunehmen bedingt zuerst die Änderungen im Inneren wahrzunehmen. Dazu dient das streng geregelte Leben. Das beginnt damit, abends beizeiten ins Bett zu gehen und am Morgen früh aufzustehen. Es ist im Grunde ganz einfach.
Der Wald bzw. die Wäldchen sind schon lange kein „wahres Reich“ der Tiere mehr. Überhaupt frage ich mich, wann es zuletzt so etwas wie einen Wald in Deutschland gegeben hat. Wann sprechen wir von einem Wald, und wann von einem Forst? Im Mittelalter bezeichnete „Forst“ in vielen Gegenden ursprünglich einen „Bannwald“, also einen Waldbereich, dessen Nutzung dem Landesherrn vorbehalten war. Im Bundeswaldgesetz heißt es: „Wald im Sinne dieses Gesetzes ist jede mit Forstpflanzen bestockte Grundfläche…“. Am ehesten lässt sich Wald in Abgrenzung zu Feld oder auch Stadt verstehen. Intuitiv würden wir sagen, dass eine Stadt kein Wald ist, obwohl jedweder Raum für sich das Reich der Menschen ist. Wir machen Natur. Und damit Kultur. Eine Natur ausserhalb uns selbst existiert nicht. Sicherlich eine gewagte These, oder findest Du nicht?
Wald im Sinne von Natur, gar unberührter Natur, existiert nicht. So wenig wie es Frühling gibt. Auch den kann ich nicht anfassen oder direkt und unvermittelt erfahren. Haikus vermögen es, ein Bild, eine Stimmung von Frühling und auch von Wald einzufangen und zu evozieren. Wald, wie auch der Frühling sind eine unbestimmte Menge an Gefühlen, Stimmungen und Phänomenen. Die, zu einer definierten Zeit im Jahr wahrgenommen, ergeben Frühling. Wald kann man das ganze Jahr über evozieren. Je nach Jahreszeit verfügt er über eine landestypische Ausprägung.
Bernd und Hilla Becher erlangten Weltruhm durch ihre Typologie von Wassertürmen. Bei Typologien (wozu u. a. die überholten Rassentheorien des Menschen, weltanschauliche oder psychologische Typenlehren, das Konzept der Kulturareale oder die gegenwärtig existierenden Systematiken für die ethnischen Religionen gehören) werden einige wenige „typische“ Merkmale herangezogen, durch die eine Klasse konstituiert wird. Entscheidend ist hier häufig weniger die tatsächliche Verwandtschaft, sondern eine phänotypische, genauer gesagt phänomenologische Klassifizierung nach analogen Eigenschaften, die zwar ein ähnliches Erscheinungsbild haben, aber nicht unbedingt verwandt sein müssen. Zudem sind diese Merkmale nie bei allen Objekten einer Klasse gleich deutlich ausgeprägt, sondern sie reichen vom „Idealtyp“ bis zu schwach ausgeprägten marginalen Typen, sodass klare Grenzziehungen in der Regel nicht möglich sind.
Die Stadt (bei Dir die Burg) wirkt geordnet, der Wald erscheint strukturlos. So könnte man eine Typologie entwickeln. Dinge, die geordnet sind und Dinge, die ungeordnet sind.
In der Moderne wird das Tier, wie auch der Wald als das Andere konstruiert. Oder begann das schon früher? Liegt hier nicht eine der Grundlagen des strukturellen Rassismus?
Des Weiteren schreibst Du, dass Grenzen bewusst errichtet werden, weil sie die Dynamik (das Leben?) der Grenzbewohner widerspiegeln. Vielleicht ist das das Schöne am Wandern. Das Mäandern entlang der sichtbaren und unsichtbaren Grenzen. Das Entlangtasten im Feld der Komplexität und die Blicke in das Chaos, dem absoluten, undurchdringlichen Dickicht, dass man im Wald ansehen, aber nicht durchschauen kann. Dort vermute ich die Tiere, wenn ich sie nicht gerade auf dem Feld herumlungern sehe.
Die Normativität der Grenze wird besonders in der Geste der Überschreitung sichtbar, also dort, wo bestehende Grenzen subversiv und transgressiv unterlaufen oder verschoben werden. (Roland Borgards: Liminale Anthropologien. Skizze eines Forschungsfeldes). Dieses Zitat habe ich Deiner Bachelorthesis entnommen und bestimmt falsch zitiert. Sieh es mir nach.
Beim Wandern bin ich ein multipler Grenzgänger zwischen Stadt, Vorstadt (oder Stadtteil), Feld, Wiese, Garten und Wald. Der Reiz des Wanderns liegt mit Bestimmtheit in diesen Grenzgängen. Obwohl es Trailrunner gibt, für die der Grenzgang darin besteht, so viele Kilometer wie möglich am Stück zu rennwandern. Das Wort habe ich soeben erfunden. Rennwanderer sind diejenigen, die Natur und Stadt als Kulisse für die eigene Körpererfahrung nutzen. Ich bevorzuge da eher Wandern als Grenzgang zwischen den unterschiedlichen Räumen. An den Schnittpunkten, den Berührungspunkten der Räume, den Übergängen von Chaos ins Komplexe ins Vertraute, sind besondere Erfahrungen möglich. Mithilfe von Techniken kann ich diese Schnittpunkte in unendlich große Räume weiten. Ähnlich dem Raum zwischen Reiz und Reaktion. Im Gespräch mit Dir stellte ich fest, dass es Dinge gibt, die tatsächlich etwas in uns auslösen, das wir nicht kontrollieren können. Allergische Reaktionen gehören dazu. Es ist schwer, die Auslöser von allergischen Reaktionen zu meiden (besonders schwer bei multiplen Allergien). Aber es ist ein einfaches, sich zu entscheiden, wie man damit umgeht. Akzeptiere ich den Umstand, dass ich Allergiker bin oder jammere ich Jahr für Jahr und bemitleide mich als Opfer der Natur? Ich bin immer wieder erstaunt, wie leichtfüßig Du die für Dich richtigen Einstellungen findest.
Nach jeder Wanderung möchte ich wer anderes sein. Und das bin ich auch. Wandern, das Grenzgängern, ist für sich der aktive Vorgang der Veränderung. Längere Wanderungen wollen vorbereitet sein. Dann wollen sie durchgeführt werden. Und dann kommt die Nachbereitung. Und dann, vielleicht, kommt eines Tages die Zeit, dass man seinen Nachkommen davon erzählt oder wie ich hier, in einem Brief davon berichte. Beim Wandern möchte ich zumeist alleine sein. Zu Wandern ist für mich der Ausdruck, für mich zu sein. Obwohl ich sehr gerne mit Freunden wandere. Nicht mit allen gleichzeitig. Das wird mir zu wuselig. Aber zu dritt oder zu viert kann wandern eine schöne Sache sein. Das ist dann eine ganz andere Erfahrung.
Ich schreibe nicht nur den Tieren Handlungsmacht zu, sondern den Dingen im Allgemeinen. Mein Verhältnis zu den Tieren und Dingen ist ambivalent. Zum einen Gestalten sie, haben Handlungsmacht, zum anderen gestalte ich, wie sie gestalten, dass sie gestalten. Und dann weiß ich, dass es durchaus egal ist, wer gestaltet. Die Tiere und Dinge existieren außerhalb meiner Wirklichkeit. Ich bin nicht eins mit ihnen. Bislang nicht, sagt mein Mönch.
Märchen möchten mir das Unbekannte bekannt machen und damit einfach. Durch Märchen lerne ich vertrauen zu haben (in die Dinge, wie sie sind), lerne ich Angst zu haben (der dunkle Wald, der Wolf, das Rumpelstilzchen), lerne ich Freude (Hans im Glück) und lerne zu Leben, wie es die Altvorderen gutheißen.
Die Ordensschwester, die mich großzog, brachte mir ein Lied bei, dass ich noch heute gelegentlich vor mich hin summe:
„Wem Gott will gute Gunst erweisen, den schickt er in die Wurstfabrik, den lässt er an der Knackwurst beißen und wünscht ihm guten Appetit.“
Der Wanderer, in erster Linie der Aufmerksame, der Zärtliche, vermag die Grenzen zum Verschwimmen bringen. Er sieht den Regenbogen dort, wo außer ihm kein anderer ist. Er sieht die schönsten Farben, die prächtigsten Pflanzen, die scheuesten Tiere. Der aufmerksame Wanderer schreckt sich nicht vor dem Chaos, er respektiert das undurchdringliche Dickicht. Er bahnt sich nicht wie der Abenteurer, der Hasardeur, der Kolonialist und Missionar seinen Weg durchs Unterholz. Mit der Machete in der einen und der Bibel in der anderen Hand.
Mit jedem Schritt löst der Wanderer die Natur-Kultur Trennung auf. Wandern gelingt dann, wenn sich der Wandernde im Feld der Komplexität bewegt. Wenn er sowohl das WAS wie das WIE stets im Auge behält. Der wandernde Fotograf legt zudem visuell Zeugnis davon ab. Wenn seine Bilder das Komplexe in vertraute Bilder transformiert, sprechen wir von gelungenen Fotografien. Vielleicht von Haiku Fotografien.
Der aufmerksame Fotograf und Wanderer respektiert den Oppositionsraum der Tiere und Dinge. Er zwingt ihnen nicht seine Ordnung auf. Ein Kodex unter den Wanderern besagt, dass man seine Rastplätze so verlässt, wie man sie vorgefunden hat. Man könnte auch sagen, es solle alles so sein, wie es zuvor war, damit der Lauf der Dinge nicht aus den Fugen gerät.
Das Erlernen von Liedern, die den Weg durch die Wüste ermöglichen, das Erlaufen der Traumpfade, das Einssein mit seinem Krafttier und die Dinge benennen können, die einem heilend den Weg weisen. Das bedeutet, das Chaos zu durchdringen, das bedeutet im Chaos vertraut zu sein. Man muss es nicht auflösen, um sich darin bestens auszukennen.
Der Weg der Fotografie, könnte man meinen, lehrt einen, die Klaviatur des Chaos, der Komplexität und des Komplizierten virtuos zu spielen. Die Voraussetzung dafür ist es, so mein Mönch, seinen Geist zum Einfachen hin zu bilden und den Körper zu straffen. Im Taijiquan vereinfache ich die Gesten, damit sie mir vertraut werden können. Dann erst kann ich die Gesten verbinden und zu komplexen Abläufen zusammenfügen. Wenn das Taiji nicht mehr wahrzunehmen ist, habe ich mich ins Chaos verabschiedet. Ich habe dann das Taijiquan verlassen. Allerdings besteht dort, im Chaos die Möglichkeit, unbekanntes zu entdecken und in meine Übungspraxis zu überführen. Das heisst es, aus Unbekanntem Vertrautes machen.
In der Fotografie bilde ich eine Bildsprache heraus, eine uneindeutige Semiotik, falls das überhaupt möglich ist. Merkmale sind der Bildausschnitt, die Bildgestaltung, die Grauwerte (und deren starke Reduzierung). Ein besonderes Augenmerk lege ich auf den Anschnitt von Figuren und Dingen, so wie Hokusai es meisterlich beherrschte. Meine Fotografien sind „Bilder der fließenden Welt“, sind Fotografien vom „Lauf der Dinge“. Sie vermögen es, den Lauf der Dinge für einen Bruchteil anzuhalten, damit man in Ruhe schauen kann, sich besinnen kann, um dann weiterzugehen. Sie trachten nicht danach, sich in Techniken zu ergehen, die die Kompliziertheit unnötig erhöhen. Der guten Fotografie merkt man nicht an, dass der Fotografierende eine lange Reise hinter sich hat, bis seine Fotografie das Licht der Welt erblickt.
Fotografien betrachten zu lernen, erfordert, das Wesen der Fotografie zu verstehen:
– Die materielle Ebene
– Die darstellende Ebene
– Die geistige Ebene
– Geistiges Modellieren
Wie das geht und was man darunter verstehen kann, das hat Stephen Shore niedergeschrieben. Es sind die essenziellen Grundlagen, um Fotografien lesen und verstehen zu können. Fotografien sind Objekte, die sich vom Subjekt (dem Fotografen) abgelöst haben. Sie stehen für sich selbst. So wie jedes Kunstwerk für sich selbst steht.
Wie komme ich dazu, eine Fotografie zu erzeugen? Zu erwirken? Wie gelingt es mir, Welt zu gestalten? So wie der Poet mit Gedichten, der Romancier mit seinen Romanen, der Essayist mit seinen Essays Welt gestaltet? Wie wirkt sich das Spiel mit dem WAS und dem WIE auf die Welt aus? Wann knipse ich und wann gestalte ich Welt? Und ist knipsen nicht ebenso Welt gestalten?
Die Welt und ihre Wirklichkeit stellen sich ein jeder und ein jede anders vor. Fallen Subjekt und Objekt in eins, sprechen wir von Erleuchtung.
Liebe Tochter, kann man Biene und Hummel zugleich sein?
Dreizehnte vertikale Poesie
Heute habe ich nichts gemacht
Aber viele Dinge geschahen in mirVögel, die es nicht gibt,
fanden ihr Nest.
Schatten, die womöglich da sind,
erreichen ihre Körper.
Worte, die existieren,
erlangen ihre Stille wieder.Nichts zu tun,
rettet manchmal das Gleichgewicht
der Welt, indem es erreicht,
dass auch etwas Gewicht hat
auf der leeren Schale der Waage.Roberto Juarroz
Service
- Durs Grünbein, Lob des Taifuns, Insel Verlag, 2008
- Roberto Juarroz, Vertikale Poesie, Jung und Jung, 2005
- Roberto Juarroz, Dreizehnte Vertikale Poesie, Residenz Verlag, 1997
- Gisela Dischner, Wörterbuch des Müssiggängers, Edition Sirius, 2009
- Alois Schöpf, Glücklich durch Gehen, Limbus, 2014
- Christian Sauer, Regen, Verlag Hermann Schmidt, 2021
- Christian Sauer, Draußen gehen, Verlag Hermann Schmidt, 2022
- Rebecca Solnit, Wanderlust, Matthes & Seitz, 2021
- Werner Herzog, Vom Gehen im Eis, Hanser, 1978
- Bernward Vesper, Die Reise, Area Verlag, 2005
- Torbjørn Ekelund, Im Wald, Malik, 2014
- Viktor E. Frankl, Über den Sinn des Lebens, Beltz, 2022
- Allen Ginsberg, Reality Sandwiches, Nishen, 1989
- Stephen Shore, Das Wesen der Fotografie, Phaidon, 2009
Der Text wurde erstmals am 31.5.2024 auf Dérive & Photography veröffentlicht.