2. November 2025

Alle Fotografien wurden mit der Leica Q2 Mono aufgenommen.

Dérive & Photography

Limburg, 2025-11-02, 1:36 h, 8,27 km

Fieldrecordings:

(1) Limburg an der Lahn, Hessen, Deutschland / Nutellakarusell (Limburg)
https://aporee.org/maps/work/?loc=70114

(2) Limburg an der Lahn, Hessen, Deutschland / Am Wehr (Lahn)
https://aporee.org/maps/work/?loc=70112

(3) Limburg an der Lahn, Hessen, Deutschland / Neumarkt – Limburg
https://aporee.org/maps/work/?loc=70113

Limburg, November

Es war neun Uhr vierundfünfzig am Morgen, ein Sonntag im November, Sonntag der zweite November zweitausendfünfundzwanzig, als ich das alte Stadthaus verließ, das Haus bei hundertachtundvierzig Metern über dem Meer, und nach Norden ging, die Straße hinauf zunächst, leicht ansteigend, hundertfünfzig Meter, dann wieder hinab, hinab zum Bahnhof, wo die Stadt sich senkte, hundertdreißig, hundertzwanzig, und die Kamera war in der Tasche, stumm und schwer, ein Gewicht, das ich spürte und nicht spürte, und neben der Kamera das Aufnahmegerät, das Fieldrecorder-Gerät, das die Geräusche empfangen würde, wenn sie kommen wollten, wenn sie sich anbieten wollten, ohne Plan, ohne Absicht, nur der Logik der Dérive folgend, der Musik des Zufalls, und die Luft war kühl, acht Grad vielleicht, neun Grad, der Wind kam aus Westen, aus Südwesten, dreizehn Kilometer pro Stunde, dreißig in den Böen, und über allem lag die Wolkendecke, dicht und grau und geschlossen, die Niederschlagswahrscheinlichkeit bei neunzig Prozent, aber noch fiel kein Regen, noch nicht, und vom Bahnhof wandte sich die Route nach Westen, nach Südwesten, einem Gefühl folgend, einer Intuition, Richtung Schafsberg, die Straßen wurden schmaler, enger, die Häuser rückten zusammen, und ich ging weiter, immer weiter, während die Elevation weiter sank, hundertfünfzehn, hundertzehn, bis die Route sich nach Süden wandte, hinunter zur Lahn, zum Fluss, wo die Höhe ihren tiefsten Punkt erreichte, hundertdreizehn Meter, und dort, am Klärwerk, blieb ich stehen, nicht weil ich es geplant hatte, sondern weil der Ort es verlangte, weil etwas sich öffnete, und ich holte das Aufnahmegerät aus der Tasche und ließ es laufen, einfach laufen, während das Rauschen des Wassers sich aufschrieb, das mechanische Summen der Anlagen, der Wind in den kahlen Bäumen, Klänge, die empfangen werden wollten, die durch mich hindurch wollten in den Speicher hinein, und dann, während das Gerät noch lief, während die Klänge sich sammelten, zog ich die Kamera heraus, nicht um etwas zu fotografieren, sondern weil etwas fotografiert werden wollte, weil der Moment sich zeigte, weil die Hand sich bewegte, automatisch, ein Kanal nur, ein Medium, und ich drückte ab, einmal, zweimal, ließ die Bilder geschehen, die grauen Betonwände, das fließende Wasser, die leeren Ufer unter der Wolkendecke, Bilder, die ich sehen würde später, viel später, auf dem Bildschirm, die ich bearbeiten würde, computieren würde, denen ich eine neue Seele einhauchen würde, eine neue Charismatik, die ich verwandeln würde aus Daten in etwas anderes, Bilder, die im Speicher lagen, unsichtbar noch, Daten nur, die nicht gemacht wurden, sondern sich ereigneten, und nach einigen Minuten steckte ich beide Geräte wieder ein, Recorder und Kamera, und ging weiter, nach Osten nun, die Route folgte dem Flusslauf, hundertfünfzehn Meter, hundertzwanzig, entlang der Lahn, wo das Wasser träge floss zwischen den steilen Ufern, und die Straße stieg leicht an, hundertfünfundzwanzig, hundertdreißig, und führte mich zum Wehr, zum Katzenturm, wo ich wieder stehenbleiben würde, wo das Wasser über die Staustufe stürzte mit einem Rauschen, das alles andere übertönte, ein weißes Rauschen, ein kontinuierliches Rauschen, und wieder geschah es, dass ich stehenblieb, dass das Aufnahmegerät herauskam, dass es lief, dass die Klänge sich sammelten, die kommen wollten, die gehört werden wollten, und während es lief, während das Wasser rauschte und der Speicher sich füllte, zog ich wieder die Kamera heraus, nicht weil ich wollte, sondern weil etwas gesehen werden wollte, weil der Turm sich zeigte, das Wehr sich zeigte, das Wasser sich zeigte, und ich war nur der Kanal, durch den es hindurch wollte, ein Medium, ein Durchgangsraum für Bilder, die sich ereigneten im Rahmen dieser Dérive, dieser zufälligen und doch notwendigen Bewegung durch die Stadt, und dann ging ich weiter, die Route wandte sich nach Norden, nach Nordosten, durch die Altstadt jetzt, wo die Straßen enger wurden, die Häuser älter, Fachwerk überall, diese postkartenhafte Altstadt, durch die ich hindurchging wie durch einen Traum, wie durch eine Erinnerung, die Elevation stieg wieder, hundertfünfundvierzig, hundertfünfzig, hundertzweiundfünfzig, der höchste Punkt dort oben zwischen den alten Mauern, und die Route führte mich zur Salzgasse, zur Nummer dreiundzwanzig, wo das Café Will stand, das älteste Café in Limburg, seit eintausenddreihundertvierundsechzig, offiziell als Café seit achtzehnhundertachtzig, fünf Generationen, hundertvierundvierzig Jahre, und ich trat ein, kaufte Kuchen, einen Limburger Säcker vielleicht, dieses traditionelle Gebäck aus Buttermürbeteig mit Äpfeln und Butterstreuseln nach geheimem Rezept aus dem achtzehnten Jahrhundert, und die Verkäuferin packte ihn ein, freundlich, routiniert, und ich zahlte und ging wieder hinaus in die graue Kälte, in den Südwestwind, der durch die engen Gassen pfiff, und die Route wandte sich nach Westen, nach Nordwesten, sank wieder hinab, hundertfünfundvierzig, hundertvierzig, hundertfünfunddreißig, zum Neumarkt, wo die Baumarbeiten waren, der Rückschnitt der Platanen, und schon von weitem hörte ich das Geräusch der Motorsägen, dieses hohe, schrille Kreischen, das durch die Straßen hallte, und ich ging näher heran, und wieder geschah es, ohne dass ich es gewollt hätte, ohne dass ich es geplant hätte, das Aufnahmegerät kam heraus, begann zu laufen, empfing diese Klänge, diese gewaltsamen Klänge der Sägen, das Krachen der fallenden Äste, das Rufen der Arbeiter, Klänge, die aufgenommen werden wollten, die durch mich hindurch wollten, und während es lief, während die Geräusche sich aufschrieben, zog ich die Kamera heraus, nicht weil ich fotografieren wollte, sondern weil etwas fotografiert werden wollte, die Platanen, die Arbeiter, die fallenden Äste, Bilder, die sich zeigten, die gesehen werden wollten, und ich war nur das Medium, der Kanal, durch den sie in die Welt kamen, Teil dieser Dérive, dieser zufälligen Choreographie aus Gehen und Stehenbleiben, aus Hören und Sehen, aus Empfangen und Geschehenlassen, und nach einigen Minuten steckte ich beide Geräte wieder ein und ging weiter, die Route wandte sich nach Osten, nach Südosten, zurück durch die Altstadt, die Elevation stieg wieder, hundertvierzig, hundertfünfundvierzig, vorbei an den Fachwerkhäusern, den geschlossenen Läden, den leeren Straßen dieses Sonntagmorgens, und dann nach Süden, nach Südwesten, hundertfünfzig Meter, hundertachtundvierzig, zurück zum Ausgangspunkt, zum alten Stadthaus, und gegen elf Uhr siebenundfünfzig, zwei Stunden und drei Minuten nach dem Aufbruch, davon sechsundneunzig Minuten in Bewegung, siebenundzwanzig Minuten in Stillstand, an den Orten, die sich gezeigt hatten, am Klärwerk, am Wehr, am Neumarkt, stand ich wieder vor dem Haus bei hundertachtundvierzig Metern, und die Kamera war nicht mehr unberührt, sie hatte Bilder empfangen, Bilder, die ich später sehen würde auf dem Bildschirm, die ich bearbeiten würde, computieren würde, verwandeln würde, denen ich eine neue Seele einhauchen würde durch die Bearbeitung, durch das Computieren, bevor ich sie in den Blog stellen würde, zur Schau stellen würde, einen Prozess aus dem Lebendigen in den virtuellen Raum, in der Hoffnung, dass sich irgendwer erbarmt, erfreut, dass jemand sie materialisiert, die Bilder, den Text, die Aufnahmen, dass jemand davon erzählt seinen Kindern, seinen Eltern, seinen Freunden, dass jemand sie zeigt und berichtet und selbst hinausgeht und sich verliert in seiner eigenen Dérive, sich verliert, nicht verloren geht, wie es die Situationisten anstrebten oder andeuteten, sondern sich verliert, sich in der Natur verliert, sich in der Welt verliert, verliert und nicht mehr festhält, an der Vorstellung von dem, was man gerade sieht, hört, riecht, mit allen Sinnen wahrnimmt, in der Welt ist, denn in der Welt sein, heißt sich verlieren, Bilder, die als Daten im Speicher lagen, unsichtbar noch, die entstanden waren nicht durch Willen, sondern durch Hingabe an die Bewegung, an die Musik des Zufalls, an das, was sich zeigen wollte, was fotografiert werden wollte, und das Aufnahmegerät hatte Spuren gesammelt, akustische Dokumente dieses Morgens, die sich ereignet hatten, nicht weil ich sie gesucht hatte, sondern weil sie da waren, weil sie empfangen werden wollten, weil die Dérive sie zugelassen hatte, und der Kuchen vom Café Will war in der Tüte, und alles war wie vorher und doch anders, denn ich hatte die Stadt neu vermessen, nicht mit Absicht, sondern mit Aufmerksamkeit, nicht mit Plan, sondern mit Offenheit, als Kanal, als Medium, als Durchgangsraum für das, was durch mich hindurch wollte, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, hinab zum Bahnhof, Richtung Schafsberg, zur Lahn, zum Klärwerk bei hundertdreizehn Metern, dem tiefsten Punkt, dann flussaufwärts zum Wehr, zum Katzenturm, durch die Altstadt hinauf bis hundertzweiundfünfzig Meter, dem höchsten Punkt dort zwischen den Fachwerkhäusern, zur Salzgasse, wo das Café Will stand seit eintausenddreihundertvierundsechzig, dann hinab zum Neumarkt, und zurück, immer zurück, eine Schleife, eine Linie, eine Spur durch die Stadt, achtkommazweisieben Kilometer lang, die sich nun als doppelte Spur manifestierte, als akustische und visuelle Spur, als Aufnahmen und Fotografien, die entstanden waren nicht durch Machen, sondern durch Geschehenlassen, durch Wu-Wei, durch Nicht-Handeln im Handeln, durch das Zurücktreten des Ichs, das nur noch Kanal war, nur noch Medium, nur noch Durchgangsraum für das, was sich zeigen wollte, was gehört werden wollte, was gesehen werden wollte, und das war vielleicht das Wichtigste an diesem Morgen, an diesem zweiten November zweitausendfünfundzwanzig, diese Hingabe an die Zufälligkeit, an die Musik der Stadt, die sich selbst komponierte, Klang für Klang, Bild für Bild, während ich durch sie hindurchging, ohne zu suchen, ohne zu planen, nur gehend, nur sehend, nur hörend, nur empfangend, sechsundneunzig Minuten in Bewegung, siebenundzwanzig Minuten in Stillstand, unter der grauen Wolkendecke, im Südwestwind, bei acht Grad, neun Grad, zehn Grad, die gefühlte Temperatur bei fünf, bei sechs, und die Aufnahmen und die Fotografien waren nur Nebenprodukte dieses Gehens, dieser Dérive, sie waren nicht der Zweck, sondern die Folge, sie waren nicht gewollt, sondern geschehen, nicht gemacht, sondern empfangen, wie Geschenke, wie Zufälle, wie Momente der vollständigen Aufmerksamkeit, die sich selbst transzendierte und zu etwas anderem wurde, zu einem Kanal, durch den die Welt sich selbst betrachtete, durch den die Stadt sich selbst hörte, durch den die Dinge sich selbst zeigten, und ich war nur das Medium, nicht die Botschaft, nur der Durchgangsraum, nicht der Inhalt, nur die Leere, durch die etwas hindurchfließen konnte, achtkommazweisieben Kilometer lang, und am Ende, als ich wieder vor dem alten Stadthaus stand, wusste ich, dass die Aufnahmen und die Fotografien nur Spuren waren, nur Reste, nur blasse Abdrücke von etwas, das viel größer war, viel umfassender, viel wirklicher, nämlich die Erfahrung selbst, das Gehen selbst, die Dérive selbst, die sich nicht aufzeichnen ließ, nicht archivieren, nicht reproduzieren, die nur erlebt werden konnte, nur durchlebt, nur gegangen, als Kanal für das, was durch einen hindurch wollte, als Medium für das, was sich zeigen wollte, als Durchgangsraum für die Stadt, die durch mich hindurchging, während ich durch sie hindurchging, und wir wurden eins, die Stadt und ich und die Bilder und die Klänge, für diese kurze Zeit, für diese zwei Stunden und drei Minuten, sechsundneunzig Minuten Bewegung, siebenundzwanzig Minuten Stillstand, und dann trennten wir uns wieder, und ich war wieder ich, und die Stadt war wieder die Stadt, aber etwas war geschehen, unmerklich, aber spürbar, etwas hatte sich ereignet, nicht durch Willen, sondern durch Geschehenlassen, nicht durch Machen, sondern durch Empfangen, und die Aufnahmen und die Fotografien waren die stummen Zeugen dieses Ereignisses, das längst verschwunden war, einer Route, die sich durch die Stadt gezogen hatte wie eine unsichtbare Linie, von hundertachtundvierzig hinab zu hundertdreizehn und hinauf zu hundertzweiundfünfzig und zurück zu hundertachtundvierzig, durch alle Himmelsrichtungen, Norden, Westen, Süden, Osten, Nordosten, Südwesten, eine mäandernde Bewegung ohne Zentrum, ohne Ziel, nur dem Fluss der Stadt folgend, ihren Straßen, ihren Plätzen, ihren Ufern, ihren Geräuschen, ihren Bildern, die sich anboten und durch mich hindurchgingen, aufgezeichnet und doch nicht festgehalten, fotografiert und doch nicht besessen, nur durchlaufen, nur durchwandert, nur erfahren an diesem einen Morgen, diesem zweiten November, diesem Sonntag der Wolken und des Winds und der stummen Häuser und der drei Orte des Innehaltens, wo die Dérive sich verdichtete, wo sie sich manifestierte in Klang und Bild, bevor sie sich wieder auflöste in die reine Bewegung, in das reine Gehen, in das reine Dasein als Kanal, als Medium, als Durchgangsraum in der Stadt, die nun wieder zu dem wurde, was sie vorher war, eine Ansammlung von Straßen und Häusern und Menschen, während die Route sich auflöste, verschwand, nur noch existierend als Datei, als GPX-Datei mit ihren Koordinaten und Höhenmetern und Zeitstempeln, und als Erinnerung, als dunkle Erinnerung im Körper, in den Beinen, die sie gegangen waren, in den Augen, die sie gesehen hatten, in den Ohren, die sie gehört hatten, in den Händen, die nur Kanäle gewesen waren für das, was durch sie hindurch wollte, eine Erinnerung, die schon verblasste, schon verschwand, während ich diese Zeilen schrieb, diese endlosen, mäandernden Zeilen, die versuchten festzuhalten, was sich nicht festhalten ließ, die versuchten zu beschreiben, was sich nicht beschreiben ließ, die Dérive, die Stadt, den Morgen, die Route, das Empfangen, das Geschehenlassen, das Medium-Sein, das Kanal-Sein, das Durchgangsraum-Sein für etwas, das größer war als ich, das durch mich hindurch wollte in die Welt hinein, und nun war es vorbei, endgültig vorbei, und nur die Spuren blieben, die Aufnahmen, die Fotografien, die ich später bearbeiten würde, verwandeln würde, computieren würde, denen ich eine neue Seele einhauchen würde, bevor ich sie in den Blog stellen würde zur Schau, in der Hoffnung, dass jemand sie sieht, dass jemand sie materialisiert, dass jemand davon erzählt, dass jemand selbst hinausgeht und sich verliert, die Worte, stumme Zeugen eines Ereignisses, das sich ereignet hatte, ohne gewollt zu sein, das geschehen war, ohne gemacht zu sein, das empfangen worden war, ohne gesucht zu sein, an diesem zweiten November, diesem Sonntag im November, unter der grauen Wolkendecke, im Südwestwind, bei acht Grad, neun Grad, zehn Grad, während ich ging und ging und ging, sechsundneunzig Minuten lang ging, als Kanal, als Medium, als Durchgangsraum, durch die Straßen von Limburg an der Lahn, durch diese kleine Stadt in Hessen, hundertdreizehn Meter über dem Meer am tiefsten Punkt, hundertdreiundfünfzig am höchsten, und immer wieder zurück zu hundertachtundvierzig, wo das Haus stand, wo die Route begann und endete, wo alles begann und endete, ohne zu beginnen, ohne zu enden, nur ein Durchgang, nur ein Kanal, nur ein Medium für etwas, das kommen wollte, das durch mich hindurch wollte, das sich zeigen wollte, und nun war es da, in den Aufnahmen, in den Fotografien, in diesen Worten, die selbst nur Kanäle sind, nur Medien, nur Durchgangsräume für etwas, das nicht in Worte gefasst werden kann, das nur erfahren werden kann, nur durchlebt, nur gegangen, nur empfangen, in dieser einen Dérive, an diesem einen Morgen, der nun vorbei ist, endgültig vorbei.