Ein Sarkophag für die Kunst

Exkursion ins Museum Reinhard Ernst

Der Besuch

Mein Besuch im Museum Reinhard Ernst (mre) war lange geplant und fiel schließlich auf einen Dienstag in meiner Urlaubswoche. Mit mir warteten einige Rentner auf die Öffnung der Pforten. Es waren nicht viele, sodass ich das Museum fast für mich allein hatte.

Seit der Einführung der Plattform Airbnb spricht man von „Check-In-Erfahrungen“. Früher war mir das einerlei. Service ist, wie er ist – mal gut, mal schlecht. Mein Check-In-Erlebnis war, dass erwähne ich dann doch, angenehm. Ich hatte das Ticket im Vorfeld online gebucht und konnte mir somit den Weg zur Kasse sparen. Kurz bevor ich die Schranke zu den heiligen Hallen passieren konnte, machte mich ein höflicher Museumswärter darauf aufmerksam, dass ich meine Tasche in einem Spind einzuschließen habe. Auf meine Frage, ob ich fotografieren dürfe, erhielt ich die Antwort: „Ja, aber ohne Blitz! “

Die Tasche war schnell verstaut, die Kameras geschultert. Nichts stand mir mehr im Weg. Ich durchschritt die Vereinzelungsanlage und stieg die mächtige Treppe zu den Ausstellungsräumen hinauf. Selbstverständlich fiel mir der Lichthof auf, in dem ein Baum und einige Skulpturen ihr Dasein fristeten.

Die luftige Hängung der ausgestellten Werke wirkt angenehm. Jedes Kunstwerk findet genügend Raum, und der Betrachtende hat ausreichend Abstand zu den teilweise imposanten Exponaten. Kommt man einem Werk zu nahe, erscheint blitzschnell ein Museumswärter, der freundlich darauf hinweist, Abstand zu halten. Bewaffnet mit einem Tablet-PC überwacht er beständig die live eingespielten Bilder der unzähligen Überwachungskameras.

Mit einer Deckenhöhe von 14 Metern und seiner sakralen Aura ist unsere sogenannte Kathedrale außergewöhnlich in einem Haus für Malerei.
(Magazin No1 – Museum Reinhard Ernst)

Nach kurzer Zeit überkam mich das Gefühl, in einem Sarkophag zu wandeln. Die Bilder erfreuten mein Herz, meine Augen, meine Seele. Doch die Klimatisierung, die trockene Luft, der aufdringliche Geruch der geölten Dielen, die künstliche Stille und die hermetische Raumwirkung wirkten unablässig feindlich. Die spärlichen Blicke nach draußen boten wenig Erfreuliches, und der eingangs erwähnte Lichthof mit dem Bäumchen erweckte mein Mitleid. Ich war kurz davor, den Baum zu retten, wie einst Maude im Film „Harold und Maude“ aus dem Jahr 1971. Ich tat es nicht.

Wie viele bürgerliche Bildungseinrichtungen ist auch mre ein Ort des Todes. Hier lebt nichts. Hier wird Reichtum gezeigt. Reichtum von Menschen, die Werke von Künstlern kauften, die zumeist mit dem goldenen Löffel groß wurden. Eine hermetische Erzählung. Und ich darf staunen. „Wow“, gibt uns der Museumsdirektor mit auf den Weg durch das Museum. Wir dürfen staunen. Alles ist darauf angelegt, dass wir staunen. Die schiere Größe. Der weiße Granit (angeblich nennen die Einheimischen das Museum „Zuckerwürfel“). Die gigantischen Bildformate. Wow. Der Lichthof, einem Zen-Garten nachempfunden und doch so fremd. Und albern, das rettet auch nicht der 60-jährige rote Ahornbaum. In der östlichen Philosophie wird das Staunen gefeiert. Anfänger-Geist. So wissbegierig wie ein Kind sein. Eben Staunen. Hier, an diesem sterilen Ort wird das Staunen Zweckentfremdet und zu einer Aufforderung der Huldigung umgewandelt. Ich soll erstaunt sein über Größe, Reichtum, Technik und Farbe. Staunen ohne die Möglichkeit der Erkenntnis, denn die ist vorgegeben. Ich bin erstaunt, ja erschlagen von der Kunst. Dafür wurde dieser Sarkophag erbaut.

Das Museum ist ein eindeutig modernes Bekenntnis, das sich deutlich von seinen Nachbarn abhebt und sich dennoch harmonisch in seine Umgebung einfügt.
(Magazin No1 – Museum Reinhard Ernst)

Was ich bis dato nicht wusste, ist, dass sich Wiesbaden in das historische 5-Eck (ok, altbekannt), Raumstadt und Gartenstadt (mit Villen) aufgliedert. Im Museumsheft (No.1) findet sich eine entsprechende Skizze. Wiesbaden wird in dem Heft als eine Stadt beschrieben, die es geschafft hat, sich ins 21. Jahrhundert zu retten. Heute, so würde ich zusammenfassen, ist Wiesbaden eine Ansammlung von Sarkophagen. Kurhaus, Landesmuseum, Kurviertel, Rue, Neroberg, Historismus. Wiesbaden zu besuchen ist wie die Pyramiden von Gizeh zu besuchen: Der Weg führt direkt zurück in eine konservierte Vergangenheit. Nichts mehr ist lebendig, außer den Erinnerungen.

Im Ernst?

Diese Erinnerungen möchte Reinhard Ernst wach halten. Kunst, so lässt er sich zitieren, gehöre allen. Meint er das wirklich ernst? Ok, das war jetzt ein saublödes Wortspiel. Aber mal im Ernst: Wenn die Kunst allen gehören würde, dann ist sie doch, sorgfältig konserviert, in einem Sarkophag fehl am Platz. Gehört sie nicht an andere Orte, in andere Hände? Wäre Kunst, die allen gehört, nicht eine Gabe? Ein Geschenk, das ständig zirkulieren würde? Gemälde im Uhrzeigersinn, Skulpturen entgegen dem Uhrzeigersinn. Die Kunst wäre immer als Geschenk in Bewegung. Sie würde nicht, wie es der Sammler Ernst macht, akkumuliert, angehäuft und verstaut im Depot. Kunst, die allen gehört, ist ein Geschenk. Ein Geschenk von denen, die sie schöpfen, an die Menschen. Ein Geschenk von Menschen, die die Gabe habe, Kunst zu schöpfen und diese Gabe, das Kunstwerk, bedingungslos teilen. Wofür bräuchten wir dann Vermittler, Museen, Galerien? Das erinnert mich an die Geschichte eines Freundes, der in Mali eine Buslinie eröffnete. Die Geschäfte liefen recht gut, jedoch war man weit davon entfernt, in die Gewinnzone zu fahren. Nachdem der Freund die Bücher prüfte und sich mit de Einheimischen austauschte, war der Fehler im System schnell identifiziert: Windige Subjekte hatten sich als Ticket-Vermittler angedient und dadurch den Gewinn maßgeblich beeinträchtigt. Nachdem der gute Freund die Vermittler von seiner Buslinie fernhielt, liefen die Geschäfte einwandfrei. Die Buslinie war ausgebucht, trotz anders lautender Prognosen. Nach einem weiteren Jahr konnte der Freund die Buslinie an seine einheimischen Geschäftspartner übergeben und sich zurückziehen. Man nennt dies Direktvermarktung.

Tod im Äther

So wie ich nicht den Ahornbaum befreite, befreite ich nicht die Kunst. Ich fand mich abschließend im angegliederten Museumscafé ein, bestellte einen doppelten Espresso und schmunzelte über das schleimige „Enchanté, Enchanté“ des Oberkellners, das nicht mir galt. Nur zwei Tische von mir entfernt saß ein Mann, von dem ich annahm, er sei ein Profikiller, und direkt neben mir am Tisch saßen zwei Intellektuelle, die sich, und das geht nur in Wiesbaden, so beiläufig wie nur etwas über die Weltlage austauschten.

Stunden später, als ich wieder sicher in „Klein Rom“ (die Einheimischen nennen Limburg wegen seiner Kathedrale und den drei Hügeln so) ankam, hörte ich im Radio von zwei Toten, hingerichtet mit jeweils einem Kopfschuss.

Der Text wurde erstmals am 26. März 2025 auf Dérive & Photography veröffentlicht und für diesen Blog überarbeitet.

Weiterführende Lektüre

  • No1 – Magazin des Museums Reinhard Ernst
  • Gisela Notz, Theorien alternativen Wirtschaftens
  • Alexandra Bradbury / Mark Brenner / Jane Slaughter, Geheimnisse einer erfolgreichen Organizerin
  • Charles Eisenstein, Ökonomie der Verbundenheit
  • Lewis Hyde, Die Gabe
  • Gia Fu Feng, Yi Jing
  • Josephine Zöller, das Tao der Selbstheilung
  • Tuli Kupferberg, 1001 Wege ohne Arbeit zu leben
  • Gary Snyder, Riprap
  • Gary Snyder, Mythen & Texte
  • Lawrence Ferlinghetti, Notizen aus Kreuz und Quer
  • Walt Whitman, Grashalme
  • Nastassja Martin, Im Osten der Träume
  • Robin Wall Kimmerer, Die Großzügigkeit der Felsenbirne
  • Robin Wall Kimmerer, Ehrenhafte Ernte
  • Daniel Everett, das glücklichste Volk

Vorankündigung

  • Sascha Büttner (Hrsg.): Wege zu sich selbst – die Radical Dude Society
  • Sascha Büttner: Versuch über den Alltag