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Unterwegs auf dem Lahn Camino
Der Wanderer von Weilburg
Büttner bestieg um 0623 Uhr die HLB 45 nach Weilburg. Der Zug fuhr pünktlich. Sechsunddreißig Minuten später stand er am Bahnhof Weilburg. Der Begleiter wartete bereits. Sie nickten einander zu. Keine weiteren Worte. Sie gingen.
Die GPS-Aufzeichnung begann am 25. Oktober 2025 um 0701 Uhr bei den Koordinaten 50.487043 Nord, 8.268318 Ost. Höhe über Normalnull: 140,09 Meter. Es war noch dunkel. Der Sonnenaufgang war für 0806 Uhr prognostiziert. Büttner war neunundfünfzig Jahre alt. Sein Begleiter fühlte sich vierunddreißig. Wie alt er tatsächlich war, stand in keiner Datei. Büttner trug eine Leica Q2 Mono um den Hals. Die Gesamtstrecke würde 26.473 Meter betragen. Aufstieg: 557 Meter. Abstieg: 570 Meter. Durchschnittsgeschwindigkeit im Gehen: 1,32 Meter pro Sekunde.
Die Wettervorhersage für Weilburg meldete bedeckten Himmel, ab 1200 Uhr leichten Regen, später mäßig. Höchsttemperatur: 13 Grad Celsius. Regenwahrscheinlichkeit: 71 Prozent. Wind aus Südwest mit Böen bis 55 Kilometer pro Stunde.
Die Daten lagen vor. Die Route war erfasst. Was fehlte, war die Erklärung.
Büttner wanderte. Er pilgerte nicht. Der Unterschied war dokumentiert. Pilger suchen Gnade. Wanderer suchen Wege. Büttner suchte beides, dokumentierte akribisch: Jeden Schritt. Jedes Foto. Jeden Höhenmeter. Seine Aufzeichnungen waren vollständig. Seine Motive unklar.
Um 0703 Uhr befanden sie sich bei Position 50.486722, 8.267929. Die Höhe war auf 139,02 Meter gesunken. Sie hatten den Mühlberg verlassen, bewegten sich lahnabwärts. Es war stockdunkel. Der Himmel geschlossen. Der Regen begann. Nicht Niesel. Richtiger Regen. Kalte Tropfen. Die gefühlte Temperatur lag deutlich unter den gemessenen 9 Grad. Der Begleiter ging zwei Schritte hinter Büttner. Das Tempo betrug konstant 1,32 Meter pro Sekunde.
Der Schiffstunnel unterhalb von Weilburg war zwischen 1844 und 1847 gebaut worden. Länge: einhundertachtzig Meter. Büttner fotografierte den Tunnelausgang nicht. Zu dunkel. Zu offensichtlich. Er ging weiter. Der Begleiter folgte. Der Regen lief ihnen ins Gesicht.
Sie sprachen nicht. Seit dem Aufbruch hatten sie achtzehn Worte gewechselt. Büttner: “Wir gehen.” Der Begleiter: “Gut.” Das war alles. Der Weg verlangte keine Erklärungen. Der Regen auch nicht.
Um 0823 Uhr passierte der erste Trackpoint bei Position 50.414861, 8.28610 die Dämmerung. Die bürgerliche Morgendämmerung hatte um 0720 Uhr begonnen. Es wurde heller. Grau. Dann heller. Um 0915 Uhr, neun Minuten nach dem offiziellen Sonnenaufgang, erreichten sie Position 50.414861, 8.28610. Höhe: 227,76 Meter. Zeit seit Start: 3 Stunden 13 Minuten 58 Sekunden. Distanz: 9.347 Meter.
Und dann brach die Sonne durch die Wolken.
Ein Riss im Grau. Ein Strahl. Dann mehrere. Das Licht fiel flach durch die Bäume. Die Blätter leuchteten. Buchen in Gelb. Eichen in Rostrot. Die Luft dampfte. Ein herrlicher Herbstmorgen. Büttner hielt an. Der Begleiter hielt an. Büttner holte die Kamera. Fotografierte. Das Licht. Die Bäume. Den Dampf. Der Begleiter stand. Sah zu. Schwieg.
Der Regen hatte aufgehört. Die Jacken dampften. Die Temperatur stieg spürbar. Der Wind ließ nach.
Der Weg führte durch Forst. Buchen, Eichen, Fichten. Das Bundeswaldgesetz definiert Wald als “jede mit Forstpflanzen bestockte Grundfläche”. Sie gingen durch Forst, aber es fühlte sich an wie Wald. Die Sonne machte den Unterschied. Niemand kam ihnen entgegen. Niemand überholte sie. Sie waren allein. Mit dem Licht.
Die Schmerzen begannen um 1005 Uhr. Position: 50.394629, 8.287171. Höhe: 286,62 Meter. Der Begleiter sagte nichts. Büttner sah es an seinem Gang. Die Schritte wurden kürzer. Das Tempo blieb unverändert. 1,32 Meter pro Sekunde. Der Begleiter hielt mit. Die Sonne wärmte seinen Rücken.
Um 1121 Uhr passierten sie Position 50.384016, 8.227034. Höhe: 289,92 Meter. Noch immer im Aufstieg. Die Sonne war gestiegen. Der Himmel war aufgerissen. Wolkenverhangen, aber durchbrochen. Nicht das klare Blau Bayerns. Ein Herbstblau. Matter. Tiefer. Büttner fotografierte einen Baum. Eiche, geschätzt einhundertfünfzig Jahre alt. Im Gegenlicht. Der Begleiter wartete. Keine Worte. Der Begleiter spürte die Feuchtigkeit in den Socken. Er erwähnte es nicht. Die Sonne trocknete seine Jacke.
Sie trafen niemanden. Der Lahn-Camino war markiert mit gelber Jakobsmuschel auf blauem Grund. Die Markierungen waren vorhanden. Die Pilger nicht. An einem Samstag im Oktober, bei herrlichstem Herbstwetter, war der Weg leer. Das war sehr ungewöhnlich. Büttner notierte es nicht. Er ging weiter.
Um 1140 Uhr erreichten sie 50.385292, 8.213324. Höhe: 245,64 Meter. Sie hatten den höchsten Punkt überschritten. Büttner fragte: “Rast?”
“Nein”, sagte der Begleiter.
Sie gingen weiter. Die Sonne schien durch Wolkenlücken. Die Luft war klar.
Die Blasen an den Fersen des Begleiters waren seit einer Stunde aufgeplatzt. Die GPS-Daten zeigten keine Veränderung der Geschwindigkeit. Büttner sah das Blut im rechten Schuh. Er sagte nichts. Der Begleiter fühlte sich vierunddreißig. Seine Füße wussten es besser.
Um 1152 Uhr: Position 50.387209, 8.200841. Höhe: 181,06 Meter. Der Abstieg hatte einhundertneunundsechzig Höhenmeter betragen in einundvierzig Minuten. Das entsprach vier Meter pro Minute. Der Begleiter ging schneller bergab. Die Schmerzen intensivierten sich. Er zählte seine Schritte. Eins zwei drei, eins zwei drei. Das half nicht. Die Sonne half.
Dann erreichten sie die Abbruchkante.
Position: 50.387678, 8.198928. Höhe: 170,6 Meter. Zeit: 1155 Uhr.
Das Limburger Becken lag vor ihnen. Im Nordwesten die A3, eine silberne Linie durch das Tal. Die ICE-Trasse, parallel zur Lahn. Im Westen Limburg. Den Dom konnte man nicht sehen. Aber erahnen. Dafür ragte die Blechwarenfabrik Limburg als sichtbare Landmarke hervor. Gegründet 1872. Eines der ältesten Industrieunternehmen der Stadt. Anna-Ohl-Straße 1, Gewerbegebiet Offheim. Seit 2018 am neuen Standort. Deutscher Umweltpreis 2020. Dazwischen: Felder, Wiesen, Siedlungen. Die Tiefebene des mittleren Lahntals, zweihundert Millionen Jahre geologische Geschichte in einem Blick.
Der Himmel war wolkenverhangen. Weiß-Blau, fast wie in Bayern, aber eben nicht. Herbstblau. Ein gedämpftes Blau, durchwirkt von Wolkenfetzen, matter als Sommerblau, tiefer als Frühlingsblau. Die Sonne stand niedrig über dem südlichen Horizont, aber diffus.
Und im Norden, über dem Westerwald, staute sich der Regen.
Eine graue Wand. Dunkel. Dicht. Sie konnten sehen, wie die Wolken sich an den Höhenzügen verfingen. Wie der Regen dort niederfiel, schwer und träge. Während hier, am östlichen Rand des Beckens, das Herbstblau sich durchsetzte. Der Kontrast war messbar. Hier Licht. Dort Dunkelheit. Dazwischen das Becken.
Büttner stand. Der Begleiter stand neben ihm. Keiner sprach.
Die Erhabenheit kam nicht durch Schönheit. Sie kam durch Maßstab. Sie kam durch Kontrast. Das Becken war vierzehn Kilometer breit, achtzehn Kilometer lang. Zweihundertfünfzig Quadratkilometer flache Landschaft, eingerahmt von Taunus und Westerwald. Von hier oben war alles sichtbar. Jede Straße. Jede Siedlung. Die Regenfront am Westerwald. Das Herbstblau über dem Becken. Die Wettergrenze.
Der Begleiter vergaß die Schmerzen. Nicht weil sie nachließen. Weil das Becken sie unwichtig machte. Die Füße waren klein. Das Becken war groß. Der Regen über dem Westerwald war weit weg. Das Herbstblau war hier. Die Relation stimmte.
Büttner holte die Leica. Fotografierte. Die Regenfront. Das Licht. Den Kontrast. Das Herbstblau. Die Wolkenwand. Der Begleiter stand neben ihm. Sah zu. Sie wussten beide, was zu tun war.
Büttner machte vierzehn Aufnahmen. Dann senkte er die Kamera.
“Das ist es”, sagte der Begleiter.
Büttner antwortete nicht. Aber er nickte.
Sie standen elf Minuten. Die GPS-Aufzeichnung dokumentierte die Pause. 1155 bis 1206 Uhr. Elf Minuten dreizehn Sekunden. Keine Bewegung. Nur Stehen. Nur Sehen. Der Begleiter spürte seine Füße nicht mehr. Nur das Becken. Nur das Herbstblau. Nur die Regenfront am Westerwald.
Dann gingen sie weiter.
Der Abstieg war mühselig. Die Wolken schoben sich dichter zusammen. Das Herbstblau verschwand. Das Licht wurde grau. Kurz vor Villmar begann der Regen wieder. Jeder Schritt presste die Zehen nach vorn gegen das Leder. Der Begleiter ging wie auf Eiern. Büttner hielt das Tempo. 1,32 Meter pro Sekunde. Der Begleiter folgte. Der Regen wurde stärker.
Um 1217 Uhr endete die GPS-Aufzeichnung bei Position 50.391057, 8.194071. Höhe: 146,57 Meter. Gesamtdauer: 6 Stunden 16 Minuten 22 Sekunden. Bewegungszeit: 5 Stunden 34 Minuten 17 Sekunden. Pausen: 42 Minuten 5 Sekunden. Distanz: 26.473 Meter. Sie waren durchnässt.
Sie gingen nach Villmar. Am Ortseingang trennten sich ihre Wege.
“Rewe”, sagte der Begleiter.
“Bahnhof”, sagte Büttner.
Sie nickten einander zu. Keine weiteren Worte. Der Begleiter bog ab Richtung Supermarkt. Büttner ging weiter zum Bahnhof. Der Regen fiel gleichmäßig.
Der Begleiter erreichte den Rewe-Parkplatz um 1234 Uhr. Er stellte sich an den Ausgang. Wartete. Die ersten Kunden kamen. Er sprach sie an. Fragte nach einer Mitfahrgelegenheit. Richtung nach hause. Die ersten drei lehnten ab. Der vierte nickte. Ein Mann, Mitte fünfzig, Opel Insignia. Sie fuhren um 1307 Uhr los.
Büttner saß auf der Bank am Bahnhof Villmar. Kontrollierte die Aufnahmen. Einhundertdreiundfünfzig Bilder. Er würde sie am Abend sichten. Aussortieren. Archivieren. Die HLB 45 nach Limburg fuhr um 1332 Uhr. Er wartete. Der Regen lief vom Bahnhofsdach.
Der Zug kam. Büttner stieg ein. Setzte sich ans Fenster. In dreizehn Minuten würde er in Limburg sein. Er schloss die Augen. Die Füße waren in Ordnung. Die Kamera war trocken. Die Daten waren gespeichert.
Die GPS-Datei würde gespeichert bleiben. Die Fotos würden archiviert. Der Begleiter würde seine Wunden behandeln.
Was nicht dokumentiert war: das Stehen an der Abbruchkante. Die elf Minuten Stille. Die Erhabenheit. Die Regenfront am Westerwald. Das Herbstblau über dem Becken. Der Moment, in dem die Schmerzen unwichtig wurden. Der herrliche Herbstmorgen. Die Trennung ohne Abschied.
Das ließ sich nicht messen. Das ließ sich nur gehen.
Das war alles.


















