Ein ganzer Tag
die morgensonne fällt schräg durch die sprossenfenster streifenmuster auf dem abgenutzten dielenboden im alten stadthaus aus der jahrhundertwende gelegen am rand eines parks draußen vogelgezwitscher mischt sich mit fernem verkehrslärm aber hier drinnen stille stuckdecken rauputz eine insel der zeit das ganze haus meins allein zu groß eigentlich für einen einzelnen aber ich brauche den raum für die bilder für die bücher für das denken die kamera liegt neben dem bett griffbereit wie immer meine treue begleiterin keine überteuerte profikamera zu sperrig zu symbolisch zu aufgeladen eine einfache lumix gx8 mit einem 50mm objektiv ohne schnickschnack das werkzeug nicht wichtig der prozess alles
aufstehen die ersten schritte barfuß über den holzboden kalt das gefühl der planken unter meinen füßen realität verankert mich im hier und jetzt die erste tasse grüner tee eine angewohnheit aus japan daido würde lächeln wenn er das sehen könnte der alte meister dessen bilder mich verfolgen seitdem ich sie zum ersten mal in berlin gesehen habe 1995 war das damals begann alles mit der abteilung für das schlechte bild
die tiānwèn akademie meine schöpfung mein refugium mein widerstand gegen den weißen kubus gegen die kommerzialisierung der fotografie gegen die tyrannei der perfektion des scharfen bildes die akademie wächst im stillen fernab des mainstreams fernab der galerien das internet unser medium unser werkzeug unser raum ohne wände
die morgenmeditation beendet der geist klar wie quellwasser öffne den laptop checke die mails anfragen für workshops für vorträge für interviews alle höflich ablehnen zeit ist kostbar das dao der fotografie verlangt hingabe verlangt präsenz diary.saschabuettner.com aktualisieren neue bilder hochladen ohne filter ohne auswahl ohne hierarchie der strom des bewusstseins ungefiltert ungeordnet unkuratiert
heute nachmittag treffen in der akademie die anderen werden da sein die suchenden die fragenden die zweifelnden wie ich philosophen poeten fotografen daoisten gammler träumer unsere bildsprache unser gemeinsames terrain unser code nach außen unverständlich nach innen bindend
die kamera einstecken rausgehen die stadt empfängt mich mit ihrem lärm ihrem chaos ihrem leben die augen halb geschlossen den blick unfokussiert flirrend schweben durch die straßen das dérive der situationisten neu interpretiert wu-wei nicht-handeln die bilder finden mich ich finde sie nicht wir begegnen uns im zwischenraum von absicht und zufall
eine bullenwanne fährt vorbei blaulicht reflektiert sich in einer pfütze auslöser drücken nicht denken nicht komponieren nicht kontrollieren dem dao vertrauen dem fluss folgen das bild existiert schon bevor ich es mache meine aufgabe ist es zu empfangen medium sein durchgangsraum für das visuelle
zurück in der akademie die anderen warten schon diskussion über das neue heft von “koma” layoutentwürfe papiermuster widerstand gegen die digitale glätte gegen die entmaterialisierung des bildes das taktile wichtig die haptische dimension der fotografie oft vergessen oft ignoriert
kurzer gedanke an die letzte ausstellung 2013 “das ende der linearen narration” im frankfurter kunstverein danach der rückzug der bewusste schritt aus dem rampenlicht keine interviews keine ausstellungen mehr nur noch selbstverlegte bücher nur noch die plattform nur noch die akademie die kritiker verstehen es nicht nennen es arrogant nennen es elitär verstehen nicht dass es eine notwendigkeit ist eine konsequenz meiner philosophie
abends allein in der bibliothek neues buchprojekt “digitales koma” die paradoxie der digitalen fotografie nutzen um kontrolle aufzugeben die automatik der kamera als werkzeug der befreiung nicht der begrenzung test mit verschiedenen papiersorten die rohheit des materials wichtig der geruch die textur das gewicht ungestrichenes papier die tinte sichtbar fühlbar
die bilder von heute durchsehen ohne zu werten ohne auszusortieren der strom des sehens ununterbrochen wie ein fluss keine highlights keine ausreißer alles gleich wichtig alles gleich unwichtig meine art zu sehen als lebenseinstellung nicht nur als ästhetisches prinzip
zwischendurch nachricht von daido aus tokio das projekt “provoke/evoke” nimmt form an die verbindung zu japan wieder stärken die wurzeln ehren während wir vorwärts gehen die geschichte der fotografie nicht linear sondern zirkulär nicht progression sondern wiederkehr mit unterschieden
müde werden gedanken verschwimmen der tag endet wie er begann im dämmerzustand zwischen wachen und träumen die grenze verschwimmt wie in meinen bildern wie in meinem leben das fragmentarische nebeneinander nicht nur theorie gelebte praxis der alltag als künstlerisches material das leben als fortlaufende performance ohne publikum nur für mich selbst
morgen neuer tag neue bilder neuer strom dasselbe und doch anders das dao der fotografie unbenennbar unfassbar nur zu leben nicht zu erklären nicht zu theoretisieren einfach sein im fluss der bilder im fluss des lebens nicht person sondern prozess nicht fotograf sondern medium für das sehen selbst
augen schließen aber der schlaf kommt nicht die unruhe im körper die bilder im kopf drängen nach draußen aufstehen anziehen die kamera greifen doch nicht die lumix heute ist anders heute nacht ist die leica q2 mono an der reihe ein digitaler handschmeichler klassische anmutung mit zeitgemäßer technik der fixe 28mm blick die schwarz-weiß-bildwelt direkt eingebaut keine kompromisse mehr das künstliche klacken des verschlusses ein ritual ein ereignis
die haustür hinter mir zuziehen durch die leeren zimmer des erdgeschosses gehen im vorbeilaufen kurz in den großen raum schauen den ich als meditationshalle umgebaut habe wie so vieles hier die alte holztreppe knarrt unter meinen schritten das gedämpfte licht des treppenhauses wirft schatten an die wände wie aus einem expressionistischen film das haus leer still zu groß für einen menschen zu klein für meine gedanken das doppelleben des sascha büttner tagsüber der kultivierte bewohner eines bürgerlichen hauses nachts der streuner durch die straßen der stadt der park vor dem haus noch eine letzte bastion der stille bäume als schwarze silhouetten gegen den nachthimmel dann die straße überqueren die grenze überschreiten vom idyll in die wirklichkeit
nicht nach links nicht nach rechts einfach laufen der körper weiß wohin nicht der kopf kein ziel keine absicht das dérive der situationisten die drift durch die stadtlandschaft dem unterbewussten der straßen folgen dem puls der stadt der jetzt langsamer schlägt gedämpfter
die bahnhofsgegend flackernde neonlichter spiegeln sich in hingepissten pfützen rot blau violett wie in moriyamas tokio fotos ein gefühl der zeitlosigkeit der verbundenheit aller großstädte dieser welt tokio new york berlin wiesbaden limburg alle gleich in diesem zwielicht alle gleich in dieser stunde
eine bar blaues licht dringt durch die angelaufenen scheiben rauch drinnen stimmengewirr jazzmusik dringen gedämpft nach draußen durch die tür eintreten die wärme schlägt mir entgegen der geruch nach alkohol schweiß parfüm und alten ledersitzen der barkeeper nickt kennt mich nicht aber erkennt den typus den nachtwanderer den beobachter
coltrane aus den lautsprechern a love supreme der bassist schlägt den rhythmus die kamera bleibt noch in der tasche erst ankommen erst teil werden erst verschwinden in der atmosphäre ein whiskey keine eiswürfel die wärme im hals die entspannung in den schultern die musik dringt tiefer ein mit jedem schluck
am nebentisch zwei frauen stark geschminkt kurze röcke hohe absätze arbeiterinnen der nacht niemand würde sie fotografinen nennen und doch arbeiten sie mit bildern mit projektionen mit fantasien sind sie so anders als ich der auch bilder verkauft wenn auch andere der gedanke amüsiert mich die leica jetzt aus der tasche blickwechsel mit der älteren der beiden ein einverständnis eine stumme kommunikation sie versteht die geste lächelt müde aber echt posiert nicht und doch bewusst ihrer erscheinung
der verschluss klickt einmal zweimal dreimal die elektronik der kamera ein kontrapunkt zum bass vier fünf sechs die rhythmen verschmelzen sieben acht neun die bilder verschwinden in der black-box wie die noten durch den raum die frau lächelt jetzt breiter flüstert ihrer kollegin etwas zu beide lachen nicht über mich mit mir eine komplizenschaft der randfiguren
später die bar verlassen weitertändeln durch straßen die enger werden dunkler werden der stadtplan in meinem kopf verschwimmt löst sich auf wie ein foto in entwicklerflüssigkeit links rechts geradeaus das dérive führt mich es gibt kein verirren nur neue perspektiven neue bilder
eine weitere bar zwielichtiger als die erste ein mann in lederjacke an der tür mustert mich mit der kamera ein fotograf ein künstler ein voyeur alle drei vielleicht ein kopfnicken ich darf passieren die hierarchie der nacht hat ihre eigenen regeln ihre eigene anerkennung
drinnen die luft schwer von schweiß und erwartung männer in gruppen frauen an der bar ein zuhälter in der ecke erkennbar an der körperhaltung der selbstverständlichkeit der kontrolle am respektvollen abstand den andere halten er sieht mich beobachten nickt leicht eine erlaubnis die aber grenzen impliziert ich verstehe die regeln bewege mich vorsichtig in diesem territorium das nicht meins ist
mehr fotos die speicherkarte füllt sich mit schwarzweißen momentaufnahmen ein digitales archiv des nächtlichen wie sand durch eine sanduhr ein maß für die zeit die vergeht für die bilder die ich sammle nicht mache ein mann mit vernarbtem gesicht ein junges mädchen mit alten augen ein lachen das die verzweiflung nur halb verdeckt porträts der nacht der schatten der stadt die tags unsichtbar bleiben
irgendwann wieder draußen die straßen leerer die nacht tiefer die luft kühler bin ich stunden gelaufen oder minuten die zeit verliert ihre bedeutung im fluss der bilder im rhythmus der schritte der jazz klingt noch in meinen ohren bildet die tonspur zu dem film der vor meinen augen abläuft
Ein klischee eine gruppe gammler eine brücke ein feuer eine alte mülltonne flammen werfen schatten an die betonwand expressionistisches theater der wirklichkeit sie bieten mir einen schluck an aus einer flasche eingewickelt in eine papiertüte ich nehme an das brennen im hals eine verbindung ein ritual zugehörigkeit für einen moment dann mehr fotos mit ihrem einverständnis ihrer mitarbeit ihrer regie eigentlich sie wollen gesehen werden wie wir alle
weiter durch die nacht die grenzen zwischen stadtteilen zwischen schichten zwischen welten verschwimmen wie die grenzen in meinen bildern alles fließt alles verbindet sich im strom des sehens die 28mm brennweite der leica zwingt mich näher heran an die szenen an die menschen eine intimität die ich manchmal scheue und doch suche das monochrome display zeigt mir die welt wie ich sie sehe schon beim aufnehmen keine farben die ablenken nur licht und schatten nur formen und strukturen
der himmel verändert sich unmerklich von schwarz zu dunkelblau die ersten lieferwagen auf den straßen bäcker zeitungsausträger die frühschicht die stadt erwacht während ich müde werde der kreislauf das rad der zeit die ersten anzugträger erscheinen aktentaschen smartphones kaffeebecher to-go der kontrast zu den gesichtern der nacht frappierend als kämen sie aus parallelen universen die sich nur in dieser morgendämmerung kurz überlappen
zuhause die tür hinter mir schließen die müdigkeit jetzt überwältigend durch die zimmer des erdgeschosses wieder nach oben in mein schlafzimmer der geruch nach altem holz büchern und kaffee vom vortag drei etagen nur für mich manches zimmer betrete ich wochenlang nicht das haus gleichzeitig zuflucht und last gemietet nicht gekauft ein leben das meine mutter sich gewünscht hätte bürgerlich kultiviert respektabel und doch nur kulisse für mein anderes ich die kamera ablegen die sd-karte in den laptop schieben kurz durchscrollen durch die schwarzweißen fragmente der nacht die gezackten lichter der bars die vernarbten gesichter der nachtwanderer der rauch die schatten die geheimnisse morgen bearbeiten oder übermorgen oder nächste woche keine eile die bilder existieren sind teil des stroms haben sich schon eingeschrieben ins kollektive unbewusste der stadt
die schuhe ausziehen die klamotten den körper fallen lassen das bett ein hafen nach der drift durch die nacht die augen schließen der schlaf kommt sofort überwältigt mich wie eine welle
im traum bin ich daido moriyama der sascha büttner fotografiert der wiederum moriyama fotografiert ein endloser spiegel eine schleife der wahrnehmung wie im schmetterlingstraum des zhuangzi bin ich büttner der träumt moriyama zu sein oder moriyama der träumt büttner zu sein die grenzen verschwimmen lösen sich auf im weißen licht der überbelichtung im schwarzen nichts der unterbelichtung das dao unfassbar unaussprechlich und doch in jedem bild präsent das unmögliche projekt der komatösen parataxe geht weiter im traum in der nacht im leben im sehen weitergehen ohne anzukommen weitersehen ohne zu fixieren weiterleben im zwischenzustand das koma als kreative kraft als bewusstseinszustand als heimat
Der Text wurde erstmals am 11. Mai 2025 auf Dérive & Photography veröffentlicht und für diesen Blog überarbeitet.
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