Eisberge voraus

Für immer Endzeit

„Wenn ein Prosaschriftsteller genug davon versteht, worüber er schreibt, so soll er aussparen, was ihm klar ist. Wenn der Schriftsteller nur aufrichtig genug schreibt, wird der Leser das Ausgelassene genauso stark empfinden, als hätte der Autor es zu Papier gebracht. Ein Eisberg bewegt sich darum so anmutig, da sich nur ein Achtel von ihm über Wasser befindet.“ – (Ernest Hemingway)

Eine Fotografie zeigt weniger das, was offensichtlich ist, als das, was es nicht zeigt. Klingt paradox. Ist es aber nicht. Der Reiz einer Fotografie besteht gerade darin, zu erahnen, zu rätseln, festzustellen, was es nicht zeigt. Fotografien sind Eisberge.

Das abgebildete Leiden anderer, dass uns täglich anspringt, ist ein banaler, autoritärer Versuch uns weis zu machen, dass das, was zu sehen ist, die Wirklichkeit zeigt. Fotografien zeigen jedoch nie die Wirklichkeit. Auch wenn dies seit Erfindung der Fotografie die geltende Lesart ist. Auch wenn die Menschen leiden. Auch wenn der Kapitalismus das Leben und die Lebenden zerstört. Das Leiden anderer zu fotografieren, um es uns, den Betrachtern vorzuführen, ist absurd, so wie es für uns, die Betrachtenden, abstrus ist, sich das Leiden der anderen anzuschauen.

Der Anfang der Erzählung

Gute Fotografie, wie gute Kunst, fängt da an, wo Geschichten nicht fertig erzählt sind. Es geht um die Leerstellen. Die kleinen Spalte, die Zwischenräume, das Zwielichtige. Dort entsteht Erzählung. Dort, wo das “es könnte auch ganz anders sein” ist, dort finden sich die Betrachtenden wieder. Dort können sie sich einbringen und beteiligen.

Stunden, ja Tage lang arbeitete ich an der Szenerie. Jedes Detail wollte bedacht sein. In unzähligen Skizzen entwarf ich den Bildraum, den ich in die Wirklichkeit übertragen wollte. Dann endlich war es soweit. Ich bat Hannah, im Raum an der richtigen Stelle mit der richtigen Geste das Bild zu komplettieren. So entstand eine Wirklichkeit, die ich mir später im Bildraum, den die Fotografie zur Verfügung stellte, betrachten konnte.

Die auserzählte Fotografie strömt Langeweile aus. Sie langweilt. Sie lädt nicht zum verweilen ein. Es entsteht kein Zauber. Es ist wie im Kino, wenn der Film zu Ende ist und die Zuschauer nach Hause gehen.

Jeff Walls Fotografien oszillieren zwischen dem Ende der Geschichte und der Leerstelle, die die eigentliche Geschichte bedeutet.

Leerstellen

Immer dort, wo Bildelemente unvermittelt aneinanderstoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Bildes unterbrechen. (Frei nach Wolfgang Iser).

An den Leerstellen ist der Betrachtende gefordert, denn er muss die Bildelemente in eine Beziehung zueinander setzen. Er beginnt sich in Bezug zu dem Bild zu setzen. Er grenzt sich ab. Er wünscht sich, ein Teil der Fotografie zu sein. Er wünscht sich, teil der erzählten Geschichte zu sein. Er eignet sich das Bild an und erzählt seine eigene Geschichte. Er erzählt anderen von dem Bild, so wie er es sieht.

Das Universum der technischen Bilder ist arm an solchen Bildern. Es kennt keine Erzählungen. Es ist nulldimensional.

Ein Foto leidender Menschen: Wir sehen hin, und schon die gequälten Gesichter und Gesten verraten uns, dass etwas Schlimmes passiert ist. Schwieriger ist es, nur anhand der Aufnahme hinter die genauen Umstände zu kommen. Wer die Betroffenen sind, weshalb sie leiden, wer oder was dafür verantwortlich und was dagegen zu tun ist – das sind heiklere Fragen, Fragen, die uns das bloße Hinsehen kaum beantworten kann. (Teju Cole, Black Paper)

Kann ein Foto mehr als das, was Cole beschreibt? Was für ein Foto wäre das? Ein Foto, dass einen Toten auf der Straße zeigt, oder einen Toten an einem europäischen Strand, aufgenommen in einem der unzähligen Kriege, von einem der unzähligen Journalisten, in einer unseligen Zeit. Ein Foto, dass die Fragen, die gestellt werden, beantwortet, noch bevor die Fragen gestellt wurden. Ein Foto, dass beantwortet, wer der Tote ist, wie er zu Tode gekommen ist. Ob ihn ein Soldat erschossen hat, oder ob der Mann bei einem Pushback über Board gegangen wurde und ertrunken ist. Eine Fotografie die beantwortet, wie der Krieg entstanden ist. Warum Europa Menschen im Mittelmeer ertrinken macht. Das aufzeigt, was unter “Triple Oppression” zu verstehen ist. Das auf die Gräueltaten der Kolonialmächte deutet. Ein Foto, dass den Täter überführt, der das Opfer schändete.

Kann das ein Foto? Welche Wirkmacht kann eine Fotografie haben und entfalten?

Die Anmutigkeit des Eisbergs im Angesicht der Apokalypse

Erst seit dem wir wissen, dass der Eisberg nur einen Bruchteil seiner Größe unserem Blick freigibt, umweht ihn ein Hauch von Unheimlichkeit, von Anmut, von Respekt. Seit dem dient das ihm zu Ehren benannte Eisberg-Modell dazu, uns darauf hinzuweisen, dass nichts ist, wie es scheint.

Würde eine Fotografie mehr als das sichtbare des Eisbergs zeigen, dann wäre sie langweilig. Sie würde uns nichts erzählen. Wir würden nicht erschauern. Uns nicht erfreuen. Keine weiteren Fragen stellen. Es wäre eine tödliche Langeweile. Kriege sind tödlich. Grenzen sind tödlich. Regierungen und Regime sind tödlich.

Eine Fotografie, die sich nicht befragen lässt und die keine Fragen evoziert, ist das Ende der Fotografie. Sie wäre lediglich Selbstzweck. Angefertigt, um angefertigt zu sein. Sie genügt sich selbst. Sie braucht den Betrachtenden nicht (mehr). Sie hat ihren Platz im Universum der technischen Bilder. Das ist ausreichend.

Eine Fotografie, die auf alle Fragen Antworten gibt, ist sich selbst genug. Antworten sind ohne Energie. Antworten sind die vorweggenommene Apokalypse. Fotografien, die Antworten liefern, sind Offenbarungen desjenigen, der sich anmaßt, den Plan Gottes zu offenbaren. Das wäre absurd.

Bild-Erzählung

Fotografien, die Fragen aufwerfen, lassen den Betrachtenden nicht unberührt. Die Fotografie erzeugt einen Sog. Sie zieht den Betrachtenden in das Bild hinein. Der Betrachtende wird zum Bestandteil des Bildes. Aus dem heraus er vom Bild erzählt. Er ist berührt.

Das Selbstportrait erzählt nichts. Es setzt das Selbst in Pose. Es erzählt der Welt lediglich ein “schau, ich bin es”, ein “schau, hier bin ich”. Allerdings erzählt es nichts über das Ich selbst. Alles, was über das Selbstportrait erzählt wird, sind die Interpretationen und Deutungen der Betrachtenden. Deren “so will ich es sehen”, deren “so ist es”, deren “so muss es gewesen sein”. Selbstportraits haben etwas autoaggressives. Sie liefern das Selbst der Nulldimensionalität schutzlos aus. Das Selbstportrait wird berechnet und komputiert. Es liefert das Selbst den Betrachtenden aus. Und die machen das, was ihnen beliebt.

Das Portrait setzt das Gegenüber in Pose. Lässt es posieren. Sich darstellen. Das Portrait erzählt etwas über den Portraitierten. Es versammelt Erkenntnisse, die der Fotograf über das Gegenüber gewinnen konnte. Und es lässt Fragen zu. Es lädt ein, zu entdecken. Die Person. Den Raum. Die Zeit. Es verweist auf etwas, dass über die Fotografie hinaus geht. Es fragt nach der Vergangenheit und es verweist in die Zukunft. Im Portrait wird das Ich des Fotografen zum Du des Portraitierten. Ein Portrait vermag das Ich-Du im Wir aufzulösen.

Weiterführende Lektüre

  • Jeff Wall, Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit, Philo Fine Arts, 1997
  • Peter Sloterdijk (Hrsg.), Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker, Eugen Diederichs Verlag, 1993
  • Alex Capus, Das kleine Haus am Sonnenhang, Hanser, 2024
  • Maja Göpel, Eva Redecker, Schöpfen und Erschöpfen, Matthes & Seitz, 2022
  • Yuk Hui, Die Frage nach der Technik in China, Matthes & Seitz, 2020
  • Ernest Hemingway, Schnee auf dem Kilimandscharo, Rowohlt Verlag, 2015
  • August Sander, Menschen des 20. Jahrhunderts, Schirmer/Mosel, 1994
  • Dieter Roth, Zeitschrift für alles, Roth Verlag, 1987

Der Text wurde erstmals am 4.2.2024 auf Dérive & Photography veröffentlicht.