Talismane der Trauer

Momente des Glücks

Fotografien sind Talismane der Trauer, las ich bei Teju Cole. Das machte mich neugierig. Und ich griff erneut zur hellen Kammer von Barthes.

Fotografien nabeln an dem Objekt, dass ich gesehen habe. Von dessen Oberfläche die Strahlen der Sonne reflektieren und sowohl auf mein Auge wie den Sensor meiner Kamera treffen. Das Objekt hat sich in mir und zugleich in meiner Kamera eingebildet. Fotografien nabeln an dem Objekt, dass sie referenzieren.

In meiner Arbeitsstube, an meinem Rechner, lese ich den Datenträger meiner Leica aus und entwickle (berechne) die Fotografien. Zugleich erfahren die eingebildeten Aufnahmen (Momente) in mir eine Wieder-Belebung. Ich blicke auf das, was ich vor geraumer Zeit gesehen und fotografiert habe. Der Prozess des Trauerns beginnt. Und ich beschäftige mich sowohl mit der Trauer über den Verlust des erlebten Moments, wie mit den Erinnerungen an die erlebten Momente. Zugleich entsteht ein Moment des Glücks. Dem Glück des sich Erinnerns.

Die Stacheligkeit der Erfahrung

Manchmal passiert es, dass ich eine Fotografie verwerfe, sie nicht ans Licht bringe. Früher hätte ich gesagt, dass ich keinen Abzug vom Negativ mache. Dann ist der Erinnerungsmoment nicht in Deckung mit dem eingebildeten, zuvor erlebten Moment, zu bringen. Es klafft eine Lücke. Erfahrungen sind nicht abbildbar, jedoch erinnerbar.

In der Zukunft sind wir alle tot

Viele Fotografien, so wie obige, rufen eine gewisse Wehmut in mir hervor. Ich blicke auf die Fotografie und versuche die innewohnenden Erinnerungen wachzurufen. Wie war das damals genau? Wann taten wir das, was ich da sehe? Huch, ich rauchte ja noch! Und liest Bernhard wirklich den Belichtungswert von dem selbstgebauten Berechnungsschieber, oder setzt er sich in Pose, so wie ich es scheinbar tue. Eine „vollendete Vergangenheit der Pose“? Ich kann mich gar nicht erinnern, dass Marcus vor uns stand und die Aufnahme anfertigte, einbildete. In jedem Fall suggeriert die Fotografie, mir, dass wir (Bernhard und ich) sowohl real wie lebendig waren. In dem Moment der Aufnahme zumindest. Die Fotografie wird zum Bewahrer des Moments. Und ich kann sie mir, wann immer ich möchte, zur Hand nehmen und in den verblassenden Erinnerungen schwelgen. Heute nehme ich den Rechenapparat zur Hand, öffne einen Ordner und klicke die Datei an, die mir dann auf dem Display die hinterleuchtete Fotografie anzeigt.

Die Fotografie ist die Beglaubigung der vergangenen Realität, und doch nur Zeuge der eigenen, realen Existenz. Das Abgebildete selbst ist längst nicht mehr existent. Es ist vergangen.

Die Fotografie behauptet ein “so-ist-es-gewesen”, mit autoritärer Gewissheit. Sie ist immer der Vergangenheit zugewendet. Sie ist ausserstande in die Zukunft zu verweisen. Ein “so-wird-es-sein” ist der Fotografie vergönnt.

Der Tod, eigenartig

Es war ein sonniger, warmer Tag im Mai. Es war Sonntag. Es war der 17. Mai 2009. Wir saßen am Frühstückstisch und machten gemeinsam Pläne für den Tag, als ich einen Anruf bekam. Ich wurde auch damals nicht oft angerufen, weswegen ich mit fragendem Blick (ich kannte die Telefonnummer nicht, die mir auf dem Display meines Mobiltelefons angezeigt wurde) den Anruf entgegen nahm. Wie so oft ging ich aus dem Raum, um die anderen nicht zu stören. Ich lauschte der Anruferin und langsam wurde mir gewahr, was sie mir mitzuteilen suchte: Meine Mutter war am frühen Morgen gestorben und die Anruferin wollte wissen, ob ich an das Totenbett kommen wolle. Ich wollte.

Mit Hannah stand ich am Totenbett. Wir schwiegen. Umkreisten das Bett, trauten uns kaum zu atmen. Sie lebt noch, fuhr es durch meinen Kopf. Sie hat sich doch noch bewegt. Eben gerade. Wir blieben eine ganze Weile in dem Zimmer. Dann hielt ich Hannah an zu gehen. Draussen setzten wir uns hin, ich nahm Hannah auf meinen Schoß, und wir weinten.

Tiefststände

Zwei Jahre später, am 26.11.2011, eilte ich mit Hannah an den Rhein, weil ein historischer Tiefststand vermeldet worden war. Mann könne derzeit zu Fuß zum Mäuseturm laufen.

Einen ähnlichen Tiefststand habe ich bisher nicht mehr erlebt. Vielleicht habe ich auch nur das Interesse an diese Art von Nachrichten, Ereignissen und Sensationen verloren.

Das Glück der Trauer

Die Fotografie ist ein Gegenstand oder ein Erinnerungsstück, dem zauberkräftige, Glück bringende Eigenschaften zugeschrieben werden. Mit dem Smartphone kann ich mir jederzeit, an jedem Ort, Momente in Erinnerung rufen, die mir einen kurzen Moment des Glücks bescheren. Auch die Trauer ist ein Moment des Glücks. Wie der Schmerz. Und auch der Tod. Das Glück lässt sich nicht auf einen schmerzfreien, sterilen Raum reduzieren. Es ist nicht produzierbar. Und auch nicht re-produzierbar.

Das Buch Digital Trash Punk versammelt einige hundert Talismane. Für mich, den Fotografen, bedeutet jeder Talisman ein einzigartiger Moment in meinem Leben. So lakonisch, wie sie in dem Buch daher kommen, bergen sie für die Betrachtenden die Möglichkeit, das gesamte Gefühlsspektrum anzusprechen. Das Buch, oder der Abzug einer Fotografie, spricht im Gegensatz zum digital angezeigten Bild, alle Sinne an. Es berührt die Seele. Die Fotografie auf dem Bildschirm hingegen spricht nur meine Fähigkeit des Denkens an.

Berechnend

Die digitale Fotografie ist berechnend. Der ganze Schaffensprozess ist ein einziger Rechenvorgang. Der Rechenvorgang selbst ist unbekannt und findet in einer Blackbox (Rechen-Apparat / Fotoapparat) statt. Die ausgeführten Berechnungen sind für den Fotografen ein unbekannter Algorithmus. Dem Rechen-Apparat liegt beim Kauf eventuell eine Bedienungsanleitung bei. Allerdings kein Berechnungshandbuch. Ein Buch, dass alle Rechenvorgänge des Apparats aufzeigt und erklärt. Der fotografische Akt ist mehr denn je ein alchemistischer Vorgang.

Die digitalen Medien feiern diese neue Alchemie. Jedoch sind die Berechnungsmöglichkeiten dort so eingeschränkt, dass die Masse an Bildern wie ein Einheitsbrei wirken. Mittels meines Smartphones kann ich Einblicke in das Universum der technischen Bilder erlangen. Und diesem Universum in Windeseile neue, eigene Bilder hinzufügen. Die digitalen Bilder sind abgelöst von den tatsächlichen Erfahrungen und Erlebnissen. Sie sind von anderen definierte Erinnerungen. Sie sind induzierte Bilder. Sie sind vor-berechnete Bilder eines unbekannten Algorithmus. Der unbekannte Algorithmus, wie auch die KI, versuchen Zukunftsbilder zu generieren. Sie basieren auf Statistik und Wahrscheinlichkeit. Daten aus der Vergangenheit werden genutzt, um Bilder für die Zukunft zu generieren. Bilder, die sich in den Algorithmen der Apparate wiederfinden. Die KI versucht sich in einem “so-könnte-es-sein”.

Beschreibend

“Prompting” ist in aller Munde. Es bezeichnet die Eingabeaufforderung von KI-Werkzeugen. Um ein Ergebnis von dem Rechenprogramm zu erhalten, muss ich beschreiben, was ich möchte. Mit etwas Geschick bekommt man ansehnliche Bilder von dem Programm berechnet. Beschreiben heißt zerstören. Das beschriebene und dann errechnete Bild hat keine Aura. Es nabelt an keinem Objekt. Es imaginiert lediglich meine Imagination. Es halluziniert. Der Output der KI lässt uns wie kleine Kinder freuen, die zum ersten Mal ein bedrucktes Blatt aus einem Drucker schieben sehen. Wir sind erstaunt darüber, was die Blackbox KI alles kann. Es ist eine oberflächliche Freude. Sie verblasst so schnell wie ein schlecht fixiertes Negativ.

Erzählen, jetzt

Den digitalen Bildern fehlen die Erzählungen, die Feste und die Hoch-Zeiten. Sie sind nicht in das Leben eingebettet. Sie können konsumiert werden. Sie sind visuelles Junkfood.

In Erzählgemeinschaften lassen wir die Bilder wieder sprechen. Der viel gescholtene Diaabend könnte wieder aufleben. Oder wir lassen beim Wintercamp Bilder, die wir den anderen zeigen und in die Hand geben wollen, von einem zum anderen wandern. Wir reduzieren so die Menge der Bilder auf bewusst ausgewählte Momente des Glücks. Auf unsere Talismane. Wir werden ein “Schau mal”, ein Glucksen des Glücks vernehmen. Bestimmt.

Das Smartphone lassen wir in den Jackentaschen verschwinden und die digitalen Bilder ruhen. Es wird uns gut tun.

Service

  • Teju Cole, Black Paper, Claassen, 2021
  • Péter Nádas, Behutsame Ortsbestimmung, Berlin Verlag, 2006 (nur noch antiquarisch erhältlich)
  • Matthew Beaumont, The Walker, Edition Tiamat, 2023
  • David Graeber, Einen Westen hat es nie gegeben, Unrast, 2022
  • Jill Freedman, Standalone, Eyeshot 2023
  • Wouter Van de Voorde, Nucleo, Area Books, 2023
  • Theresia Enzensberger, Bilderbuch, Sorry Press, 2023
  • Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Merve, 1988
  • Samuel Beckett, Der Verwaiser, Büchergilde, Typographische Bibliothek, 2019

Der Text wurde erstmals am 1.1.2024 auf Dérive & Photography veröffentlicht.