Alle Fotografien wurden mit der Leica Q2 Mono am 16. November 2025 aufgenommen.
Wildwechsel
Über das Gehen, Sehen und Hören
Das Deutsche Wanderinstitut e.V. zertifiziert Wege nach objektiven Kriterien, vergibt Siegel für Premium-Erlebnisse, vermisst Steigungen und Aussichtspunkte, katalogisiert Naturattraktionen – was zunächst wie die Rationalisierung des Wilden erscheint, entpuppt sich beim Gehen als eigentümliches Paradox: dass gerade die minutiöse Planung jener Infrastruktur, die den „Dickschieder Wildwechsel” mit 14 Kilometern Länge und 400 Höhenmetern durch den Taunus führt, jene Vergesslichkeit ermöglicht, die das Wandern überhaupt erst zur Denkbewegung werden lässt.
Wir gingen zehn Kilometer, kürzten ab, was bereits kurz war – eine Geste der Eigenwilligkeit gegenüber dem prämierten Verlauf, die zugleich eingesteht, dass selbst der Wildwechsel des Wilds (dessen Spuren der Weg folgt oder vorgibt zu folgen) kein Gesetz kennt außer dem der Bewegungsökonomie. Der Herbst hatte die Buchen in jenes kupferne Leuchten getaucht, das an kanadische Wälder erinnert, an nordamerikanische Waldeinsamkeit, wo der Blick zwischen Stämmen hindurch bis zur Erschöpfung schweifen kann. Hier im Wispertal dieselbe Stille, dieselbe Farbenpracht, die das Auge verführt, den Auslöser zu drücken, festzuhalten, was sich längst entzogen hat.
Das Fotografieren unterbricht das Gehen, setzt dem Fluss der Schritte eine visuelle Zäsur entgegen – während die Fieldrecordings, die wir parallel aufnahmen, den akustischen Raum konservieren, ohne ihn anzuhalten: das Knistern von Laub, fernes Krähenschreien, Windgeräusch im Kronendach, dazu in regelmäßigen Abständen jene Düsentriebwerke, die das Rhein-Main-Drehkreuz auch über den herbstlich getönten Taunus dirigiert. Die kanadische Waldeinsamkeit bekommt so ihre eigene, sagen wir: südhessische Signatur. Was die Kamera aus der Zeit herausschneidet, webt das Mikrofon zurück in die Dauer – mitsamt jener Ambiguität, die entsteht, wenn Vogelstimmen und Transitverkehr zur Partitur gegenwärtiger Naturerfahrung verschmelzen. Vielleicht liegt darin eine unauflösbare Spannung des Wanderns selbst: dass es den Körper in Bewegung versetzt, um den Geist zur Ruhe kommen zu lassen, während die Apparate, die wir mitschleppen, versuchen, dem Flüchtigen eine Spur abzuringen.
Der Premium-Wanderweg, so gesehen, ist weniger Kontrolle über die Wildnis als vielmehr eine Einladung zur kalkulierten Entgrenzung – eine zertifizierte Schwelle, hinter der das Denken ins Umherschweifen gerät. Dass dabei ein Institut misst und bewertet, mag zunächst als Widerspruch erscheinen; tatsächlich aber schafft diese bürokratische Rahmung erst jenen Freiraum, in dem das Gehen sich vom Zweck löst und zum Selbstzweck wird. Der Wildwechsel – des Hirsches, des Menschen – ist immer schon markiert, ob durch Trittspuren im Moos oder durch gelbe Wegweiser. Was zählt, ist die Bereitschaft, sich führen zu lassen, um sich zu verlieren.
Fieldrecordings
- Heidenrod, Hessen, Deutschland / Unterwegs auf dem Dickschieder Wildwechsel
https://aporee.org/maps/work/?loc=70252 - Heidenrod, Hessen, Deutschland / Mehrbach, bei Dickschied
https://aporee.org/maps/work/?loc=70253





















